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Lehrkräfte in der Warteschlange – Umstellung auf G9 sorgt für Lehrerüberschuss

STUTTGART. Vom gravierenden Lehrkräftemangel zum Lehrkräfteüberschuss ging es in Baden-Württemberg ganz schnell – zumindest an den Gymnasien. Dort gibt es aktuell nicht ausreichend Stellen, um alle Nachwuchslehrkräfte nach erfolgreicher Ausbildung mit einem Job zu versorgen. Doch bereits jetzt ist absehbar: In einigen Jahren wird sich das Blatt wieder wenden. Der Philologenverband warnt daher schon jetzt vor einem bildungspolitischen Desaster.

Nach der Ausbildung in die Warteschlange: In Baden-Württemberg gibt es aktuell einen Überschuss an Gymnasiallehrkräften. Symbolfoto: Shutterstock/Victoria Labadie

„Frust, Perspektivlosigkeit und Unmut“ machen sich aktuell unter jungen Gymnasiallehrkräften in Baden-Württemberg breit. So beschreiben sie selbst ihre Situation in einem Offenen Brief auf change.org, einer Online-Plattform für Petitionen. „Obwohl seit Jahren öffentlich von gravierendem Lehrkräftemangel gesprochen wird, spiegelt sich diese Einschätzung nicht in der tatsächlichen Einstellungspraxis wider“, kritisieren sie darin. Nur wenige Stellen seien ausgeschrieben gewesen sowie über das Listenverfahren vergeben worden.

Doppelt so viele Bewerber*innen wie Lehrerstellen

Eine betroffene Junglehrkraft, die anonym bleiben möchte, berichtet in ihrer E-Mail, dass das Kultusministerium „laut inoffiziellen Angaben beim aktuellen Listenverfahren nur rund 100 von ca. 1600 Bewerber:innen eingestellt“ habe. Ähnliches weiß der SWR mit Berufung auf das Kultusministerium zu melden: Demnach stehen den fast 1.300 Bewerber*innen lediglich 519 Stellen an den Gymnasien gegenüber.

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Ursache dieses plötzlichen Überhangs an Lehrer*innen ist die schrittweise Umstellung auf G9. Ab dem Schuljahr 2025/2026 dauert der Weg zum Abitur für die Schüler*innen der 5. und 6. Klassen wieder neun statt acht Jahre. Mit der Verlängerung der gesamten Schulzeit geht allerdings weniger Unterricht pro Woche einher. Dies führt zum vorübergehend geringeren Bedarf an Lehrkräften. Mit der Entscheidung für G9 sei die derzeitige Problematik bereits abzusehen gewesen, erklärt Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) im Interview mit dem SWR. Ihr Haus habe daher die angehenden Lehrkräfte an den Praxisseminaren frühzeitig gewarnt. Die Enttäuschung über die aktuelle Situation könne sie aber durchaus nachvollziehen.

„Wenn das keine bildungspolitische Geisterfahrt ist, was dann?“

Die Kultusministerin zeigt sich bemüht, die derzeitige Einstellungspolitik zu verteidigen, ohne die Nachwuchslehrkräfte zu verlieren. Denn schon jetzt ist klar, in ein paar Jahren braucht sie sie dringend. Wenn die Umstellung auf G9 zum Schuljahr 2032/2033 abgeschlossen ist, werden abrupt 2.500 Stellen mehr zu besetzen sein. Das rechnet der Philologenverband Baden-Württemberg vor. Die Vertretung der Gymnasiallehrkräfte warnt deshalb eindringlich vor einem sich abzeichnenden bildungspolitischen Desaster. „Es ist grotesk: Erst lassen wir die Besten der Besten in der Warteschleife zappeln – und ab 2032 wird dann jeder gebraucht, der geradeaus unterrichten kann. Wenn das keine bildungspolitische Geisterfahrt ist, was dann?“, fragt Landesvorsitzende Martina Scherer.

Genau ein solches Debakel versucht Theresa Schopper zu verhindern: Sie wirbt unter den Nachwuchslehrkräften daher dafür, zu bleiben und sich auf Stellen an anderen Schularten zu bewerben, etwa Gemeinschaftsschulen, Realschulen oder beruflichen Schulen. In Aussucht stellt sie ihnen die Option, nach drei Jahren ins gymnasiale Lehramt wechseln zu können. „Für die Jahrgänge jetzt ist das natürlich eine lange Durststrecke; wir appellieren wirklich: ‚Bleiben Sie am Ball und unterstützen Sie uns an den anderen Schularten!‘“

Kritik an Haushaltspolitik

Ob dieser Aufruf verfängt, scheint fraglich. Schon jetzt formulieren die Betroffenen in ihrem offenen Brief die Absicht, sich beruflich umzuorientieren, um eine sicherere berufliche Perspektive zu haben. „Unsere Nachwuchslehrkräfte haben jahrelang alles gegeben – und jetzt heißt es, sie werden ‚gerade nicht gebraucht‘. Wer so mit Talenten umgeht, darf sich nicht wundern, wenn die besten Köpfe in andere Bundesländer, ins Ausland oder in die freie Wirtschaft abwandern“, mahnt entsprechend Stefanie Schrutz, die Landesvorsitzende der Jungen Philologen.

Kritik kommt auch von der oppositionelle SPD in Baden-Württemberg. „Grün-Schwarz lässt eine halbe Generation von Referendarinnen und Referendaren die Zeche für eine fehlgeleitete Haushaltspolitik zahlen. Das ist grob fahrlässig“, kommentiert der bildungspolitische Sprecher der SPD-Landtagfraktion Stefan Fulst-Blei die derzeitige Einstellungspolitik.

Die SPD plädiert dafür, den Überhang als Chance zu nutzen und mehr Lehrkräften einzustellen, um die Unterrichtssituation zu verbessern. „Die SPD hat zahlreiche Vorschläge unterbreitet, wo wir sie einsetzen können – zur Ausweitung der Vertiefungsstunden beispielsweise, um Klassen in Hauptfächern wie Mathe oder Englisch für zusätzliche Übungsphasen aufzuteilen oder zur Aufstockung der Krankheitsvertretungsreserve“, so Fulst-Blei. Die bittere Wahrheit sei, trotz massiven Unterrichtsausfalls verzichte Grün-Schwarz „sehenden Auges offenbar auf hunderte ausgebildete Lehrkräfte“.

Nachwuchslehrkräfte wünschen sich „lösungsorientierte Auseinandersetzung“

Und die Junglehrkräfte? Die sind enttäuscht, fühlen sich „nicht ausreichend wertgeschätzt“, aber stehen vielfach „bereit, mit Engagement und Verantwortungsbewusstsein in den Schuldienst einzutreten“. Sie erhoffen sich, mit ihrem Schreiben einen Dialog anzustoßen. „Wir sind überzeugt, dass eine lösungsorientierte Auseinandersetzung im Interesse aller Beteiligten ist – nicht zuletzt auch im Sinne der Bildung unserer Schüler:innen.“ News4teachers

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