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30 Jahre „Schule ohne Rassismus“: Von Rechtsaußen angefeindet, von Kritikern als “Etikett ohne Wert” geschmäht

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BERLIN. Seit mittlerweile drei Jahrzehnten engagieren sich bundesweit Millionen Kinder, Jugendliche und Lehrkräfte im Netzwerk „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“. Fast 5.000 Schulen haben sich inzwischen verpflichtet, Diskriminierung nicht hinzunehmen und aktiv für Respekt und Vielfalt einzutreten – damit ist die Initiative das größte schulische Präventionsnetzwerk Europas. Das Jubiläum fällt in unruhige Zeiten: Während von Rechtsaußen verstärkt Angriffe und Einschüchterungsversuche kommen, werfen Kritiker aus progressiven Kreisen dem Projekt vor, ein bloßes „Etikett ohne Wert“ zu sein.

„Das Schild an der Schulfassade ist kein Etikett, sondern ein Versprechen: Wir wollen eine Schule, in der Respekt nicht verhandelbar ist.“ Foto: Wolfgang Borrs / Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage

Darf eine „Schule ohne Rassismus“ Vertreter der AfD einladen? Diese Frage wird derzeit hitzig in Bielefeld diskutiert – und sie weist weit über die Stadt hinaus. Vor dem dortigen Helmholtz-Gymnasium versammelten sich Demonstrierende. Der Anlass: Ein AfD-Kandidat war dort (neben Vertretern anderer Parteien) bei einer Podiumsdiskussion zur anstehenden Kommunalwahl aufgetreten. „Eine Schule, die Teil des Netzwerks ‚Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage‘ ist, darf Rassisten keine Bühne bieten“, erklären Schüler- und Lehrergruppen in einem offenen Protestbrief.

Die Schulleitung verteidigt die Einladung mit dem Hinweis auf politische Neutralität. Doch die Empörung ist groß: Wie kann eine Schule, die sich offiziell dem Einsatz gegen Diskriminierung verschrieben hat, einer Partei Raum geben, die vom Verfassungsschutz als rechtsextrem und rassistisch beschrieben wird? Hier berührt die lokale Debatte einen Punkt, der seit Jahren bundesweit immer wieder aufscheint: Was bedeutet das Versprechen „Schule ohne Rassismus“ überhaupt konkret?

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Wie entstand das größte Präventionsnetzwerk Europas?

Die Auseinandersetzung fällt mit dem Jubiläum der Initiative zusammen: Am 25. August 1995 – also vor 30 Jahren – stellten der Grünen-Politiker Cem Özdemir, seinerzeit Vorstand des Vereins Aktion Courage, der damalige (und mittlerweile verstorbene) Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Ignatz Bubis, und der Rapper Smudo das Projekt „Schule ohne Rassismus“ der Öffentlichkeit vor. Die Initiative war eine Antwort auf die „Baseballschlägerjahre“, jene Zeit eskalierender rechtsextremer Gewalt in den 90er-Jahren.

2000 erhielt das Projekt unter der Leitung der Pädagogin Sanem Kleff ein neues Profil: Mit neuem Logo und erweitertem Selbstverständnis wurde es zu „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“. Der Anspruch: nicht nur gegen Rassismus zu sein, sondern aktiv für Demokratie, Gleichwertigkeit und Zivilcourage einzutreten.

Heute gehören fast 5.000 Schulen bundesweit zum Netzwerk. Mehr als 2,5 Millionen Schüler*innen und Lehrkräfte haben sich verpflichtet, Diskriminierung nicht hinzunehmen, Vielfalt zu schützen und Verantwortung füreinander zu übernehmen. Damit ist „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ das größte schulische Präventionsnetzwerk Europas. 127 regionale Koordinierungsstellen und fast 400 Kooperationspartner unterstützen die Arbeit vor Ort.

Um Teil des Netzwerks zu werden, muss eine Schule zunächst eine Selbstverpflichtungserklärung abgeben: Mindestens 70 Prozent aller Menschen vor Ort – Schüler*innen, Lehrkräfte und Beschäftigte – stimmen zu, aktiv gegen jede Form von Diskriminierung einzutreten und sich regelmäßig mit dem Thema auseinanderzusetzen. Zudem verpflichtet sich jede Courage-Schule, mindestens einmal pro Jahr ein Projekt oder eine Aktion durchzuführen, die sich mit Rassismus, Antisemitismus oder anderen Formen von Ausgrenzung beschäftigt. Erst wenn diese Bedingungen erfüllt sind, erhält die Schule das Schild „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“.

„Das Schild an der Schulfassade ist kein Etikett, sondern ein Versprechen: Wir wollen eine Schule, in der Respekt nicht verhandelbar ist“, sagt Sanem Kleff, die seit 25 Jahren das Netzwerk leitet. Auch Eberhard Seidel, Geschäftsführer von Aktion Courage, betont: „Dieses Netzwerk zeigt, dass junge Menschen bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Sie geben unserer Demokratie ein Gesicht.“

Warum geraten Courage-Schulen ins Visier der AfD?

Doch genau dieses Engagement macht die Schulen zum Ziel – und zwar ganz konkret. Eine 2021 veröffentlichte Studie der Fachhochschule Dortmund im Auftrag von Aktion Courage belegte, dass Courage-Schulen verstärkt von rechtspopulistischen Akteuren attackiert werden. Professor Dierk Borstel und Absolventin Jennifer Brückmann werteten Anträge, Kleine Anfragen und Redebeiträge der AfD in Bundestag und Landtagen aus. Das Ergebnis: Das Netzwerk wird systematisch verächtlich gemacht.

Die AfD verfolge eine Doppelstrategie, so Borstel: Einerseits versuche sie, Courage-Schulen öffentlich als „links indoktriniert“ abzustempeln. Andererseits zielten die Anfragen auf eine Zerschlagung der finanziellen Grundlage ab – etwa durch Forderungen, die staatliche Unterstützung zu streichen.

Warum geraten gerade die Schulen ins Visier? Weil sie für die AfD Orte sind, an denen Kinder und Jugendliche demokratische Werte lernen. Dass hier Respekt, Vielfalt und Gleichwertigkeit aktiv vermittelt werden, bedroht die politische Agenda der Rechtspopulisten. Hinzu kommt, dass Schulen öffentliche Räume sind: Wenn hier das „Schule ohne Rassismus“-Schild hängt, hat das Signalwirkung weit über den Ort hinaus.

Die Angriffe beschränken sich nicht auf parlamentarische Mittel. Sanem Kleff berichtete seinerzeit: „Es werden Schilder mit Hakenkreuzen besprüht, Schülerinnen und Schüler aus Aktiven-Gruppen auf dem Heimweg bedroht und in Parlamenten wird beantragt, die Finanzierung unserer Arbeit einzustellen.“ Auch Mitglieder der Bundeskoordination seien persönlich diffamiert worden. Borstel warnte: Diese Strategie diene der Einschüchterung. Schulen und Aktive sollten verunsichert und zu Passivität gedrängt werden. „Das schadet der gesellschaftlichen Debatte und stellt die Zivilgesellschaft insgesamt unter Druck.“

Warum spricht Noah Sow von einem „Etikett ohne Wert“?

Doch auch aus anderer Richtung gibt es Kritik. Besonders scharf äußerte sich die Autorin, Musikerin und Aktivistin Noah Sow bereits 2015 in einem offenen Brief. Sie betont zwar, wie wichtig rassismuskritische Arbeit an Schulen sei, lehnt aber das Projekt in seiner jetzigen Form ab. Ihr Hauptkritikpunkt: Der Titel „Schule ohne Rassismus“ sei kontraproduktiv. „Das Label verhöhnt regelmäßig all die Schülerinnen und Schüler, die nach wie vor Diskriminierungen ausgesetzt sind“, schreibt Sow.

Ein Schild an der Tür ändere nichts an rassistischen Sprüchen im Unterricht, an mangelnder interkultureller Kompetenz oder an diskriminierenden Materialien. Stattdessen könne es sogar dazu führen, dass Beschwerden abgewiesen würden – nach dem Motto: „Bei uns gibt es keinen Rassismus, wir sind ja eine Schule ohne Rassismus.“

Sow kritisiert zudem die Struktur der Projektarbeit: Schüler*innen würden Aktionen und Projekttage organisieren, während Lehrkräfte nicht verpflichtet seien, sich fortzubilden. So laste die Verantwortung einseitig auf den Jugendlichen, die teilweise selbst Diskriminierung erfahren. „Lehrende müssen mindestens ebenso stark in die Verantwortung genommen werden“, fordert Sow. Ihr Fazit: Das Projekt suggeriere Veränderung, ohne sie institutionell einzufordern. Statt auf Selbstvergewisserung der Mehrheitsgesellschaft brauche es verbindliche Strukturen, die tatsächliche Veränderungen bewirken.

Was entgegnet Sanem Kleff den Kritikern?

Sanem Kleff hält dagegen. „Ist die Aufnahme in das Netzwerk ein Gütesiegel? Nein, sie ist das klare Signal: Wir machen uns auf den Weg zu einer rassismussensiblen Schulkultur“, schreibt sie. Der Leitsatz „Schule ohne Rassismus“ sei vergleichbar mit Artikel 1 des Grundgesetzes: Auch wenn er täglich verletzt werde, bleibe er ein unverzichtbarer Anspruch. Genauso sei das Schild kein Beweis für eine rassismusfreie Schule, sondern ein Auftrag.

Kleff betont: Diskriminierung gebe es an allen Schulen, auch an Courage-Schulen. Gerade deshalb sei das Versprechen zentral, nicht wegzusehen. „Wenn an meiner Schule Gewalt, diskriminierende Äußerungen oder Handlungen ausgeübt werden, dann wende ich mich dagegen.“ Die Kritik, der Titel suggeriere Absolution, weist sie zurück: „Eine Schule ohne Rassismus entsteht nicht durch ein Schild. Sie muss immer wieder aufs Neue und mühsam erarbeitet werden.“ Wichtig sei, dass Missstände offen benannt und nicht beschwiegen würden. „Der kritische Blick und die kontroverse Diskussion helfen, eine rassismussensible Schulkultur zu entwickeln.“

Damit dreht Kleff das Argument um: Kritik sei Teil des Prozesses und helfe, die Ziele des Netzwerks einzulösen. Das Schild sei nicht das Ende, sondern der Anfang eines Weges.

Zurück nach Bielefeld: Dürfen Schulen die AfD einladen?

Der aktuelle Streit um das Helmholtz-Gymnasium führt allerdings zurück zur Ausgangsfrage: Was heißt das in der Praxis? Genauer: Sollten Schulen im Sinne der politischen Neutralität auch Vertreter der AfD auf Podien zulassen? Die Antwort der Bundeskoordination von „Schule ohne Rassismus“ ist eindeutig: Nein. „Schulen haben einen demokratischen Bildungsauftrag. Sie sind nicht verpflichtet, antidemokratischen Kräften eine Bühne zu bieten“, heißt es in einer Stellungnahme. Die AfD sei nicht irgendeine Partei, sondern eine vom Verfassungsschutz beobachtete rechtsextreme Organisation. Wer sie einlade, normalisiere ihre Positionen.

Vor Ort muss die Botschaft allerdings auch gehört werden. News4teachers 

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