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Dyskalkulie – Das Gefühl, immer dem fahrenden Zug hinterherzulaufen

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ERFURT / BERLIN. Fünf bis sechs Prozent aller Schulkinder leiden an Dyskalkulie, schätzt der Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie (BVL). In der pädagogischen Ausbildung finde das Thema aber kaum Berücksichtigung. Dabei gefährde eine Rechenstörung häufig den kompletten Schulabschluss. Der Verband fordert für Betroffene einen Nachteilsausgleich.

Zum Einkaufen zieht der Berliner Helge Pfeffer immer mit dem Taschenrechner los. Ohne die elektronische Rechenhilfe könnte er die Summe, die er bezahlen muss, nicht abschätzen. «Im Kopf überschlagen, das funktioniert gar nicht», beschreibt der 22 Jahre alte ausgebildete Fremdsprachensekretär sein Problem mit Zahlen und Rechnen, das er seit seiner Kindheit hat. Pfeffer kämpft mit Dyskalkulie, einer angeborenen Rechenstörung, die die Betroffenen ein Leben lang begleitet.

Etwa fünf bis sechs Prozent der Schulkinder fehlt das Verständnis für Mengen- oder Entfernungsangaben die in Zahlen ausgedrückt werden, schätzt der Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie (BVL). Wer sein Kind genau beobachtet und Rücksprache mit dem Lehrer hält, kann Auffälligkeiten aber früh entdecken. Foto: Jörg Willecke / pixelio.de

In Deutschland ist das Phänomen gar nicht so selten. Der Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie (BVL) geht von vier Millionen Betroffenen aus.

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Wer eine Dyskalkulie hat, kommt mit einfachsten Rechenoperationen wie Addieren, Subtrahieren, Multiplizieren und Dividieren nicht klar. Betroffenen gehe das Verständnis für die sich hinter Zahlen verbergenden Mengen- oder Entfernungsangaben völlig ab, erläutert Verbandsgeschäftsführerin Annette Höinghaus. «Das ist, wie wenn man eine Fremdsprache nicht versteht.»

Hinweis auf eine Dyskalkulie könne es nach BVL-Angaben schon in den ersten Schuljahren geben. Bei der Dyskalkulie nehmen Kinder zum Rechnen immer ihre Finger zu Hilfe. Außerdem können sie sich keine Zahlen merken. «Besonders auffällig wird es, wenn sie den Zehnerraum verlassen und ihre Finger zum Zählen nicht mehr ausreichen», erklärt Höinghaus

Es sei wichtig, so Höinghaus so schnell wie möglich eine richtige Diagnose zu stellen. «Lehrer erkennen die Störung als solche häufig nicht. Sie sagen dann, das Kind hat ADHS oder ist einfach schwächer begabt.» Am besten wenden sich Eltern bei Verdacht an einen Kinder- oder Jugendpsychiater oder ein pädiatrisches Zentrum. Fachleute können eine Rechenstörung oder eine Lese-Rechtschreibschwäche mit standardisierten Tests und bildgebenden Verfahren feststellen. Für Eltern wie Kinder bedeutet die Diagnose oft eine Entlastung.

Bei Helge Pfeffer wurden Eltern und Lehrer stutzig, weil er als Zweitklässler Zahlen spiegelverkehrt schrieb. Ein Test beim schulpsychologischen Dienst ergab die Diagnose Dyskalkulie. «Meine Eltern haben sich bemüht, schnellstmöglich eine Lösung zu finden», erinnert sich der junge Mann. Sie hätten viel Geld in Nachhilfeunterricht gesteckt. Doch das habe wenig gebracht. «Ich habe das Gefühl, dass ich immer dem fahrenden Zug hinterhergelaufen bin.»

Bei Dyskalkulie helfe die einfache Wiederholung von Schulstoff nicht, bestätigt Höinghaus. «Nötig ist eine gezielte Lerntherapie, die den Kindern auf individuelle Weise einen Zugang zu Zahlen und Mengen verschafft.» Die Suche nach geeigneten Therapeuten sei auf einem immer unüberschaubarer werdenden Fördermarkt jedoch nicht einfach. Ein Berufsbild «Dyskalkulie-Therapeut» gebe es nicht. Auch in der pädagogischen Ausbildung finde Dyskalkulie kaum Berücksichtigung. «Viele Lehrer denken, dass sich das Problem mit fleißigem Lernen schon beheben lässt», hat auch Helge Pfeffer erlebt.

Für ihn waren schlechte Mathematiknoten Schulalltag, was er durchaus als bedrohlich erlebte: «Dyskalkulie gefährdet den kompletten Schulabschluss.» Mit großem Willen, Ehrgeiz und Fleiß hat er es dennoch zur mittleren Reife und zum Berufsabschluss gebracht und im vergangenen Jahr sogar sein Fachabitur bestanden. «Darauf bin ich ziemlich stolz.»

Der BVL plädiert dafür, Kindern mit Dyskalkulie in der Schule einen Nachteilsausgleich zu gewähren. Die Schüler sollten in Klassenarbeiten zum Beispiel Anleitungen für Rechenoperationen verwenden dürfen, so Höinghaus. «Ohne solche Hilfen werden die Kinder für ihre Störung bestraft.» Sie wünscht sich auch, dass die Mathematiknoten bei Dyskalkulie-Schülern einen geringeren Stellenwert im Notendurchschnitt bekommen – oder die Schulen bei ihnen gänzlich auf Mathematiknoten verzichten.

Helge Pfeffer hat nach langer Suche zwei Teilzeitjobs in einem Fortbildungsinstitut und einem Cateringunternehmen gefunden – an seiner Rechenstörung stößt sich hier niemand. «Für mich ist das ein Schritt auf dem Weg in die Vollbeschäftigung.» (News4teachers mit Material der dpa)

zum Bericht: Urteil: Kein Notenschutz für Schüler mit Rechenschwäche
zum Bericht: Förderansätze bei Legasthenie – 18. BVL-Bundeskongress

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