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Das Abitur wird verschenkt? Das wüsste ich aber …

DÜSSELDORF. „Das Abitur ist heute leichter als früher. Es wird einem geschenkt, es ist nicht mehr so viel wert wie noch vor zehn, zwanzig, dreißig Jahren“ – behaupten jedenfalls die „Welt am Sonntag“-Autoren Thomas Vitzthum und Céline Lauer in einer viel beachteten Titelgeschichte ihrer Zeitung. Auch News4teachers hat darüber berichtet. Tatsächlich stimmt die These aber nicht. Eine Gegenrede von News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek.

Der Bildungsjournalist Andrej Priboschek. Foto. Alex Büttner

Ich möchte diesen Beitrag mit einem Bekenntnis beginnen: Ich habe 1984 in Düsseldorf Abitur gemacht – und mir wurde es, gemessen an heutigen Maßstäben, hinterhergetragen. Ich war damals 19 Jahre alt, einmal sitzengeblieben, und auf dem Höhepunkt einer jugendlichen Renitenz. Lernen? Null Bock. Wie auch zu vielem anderen nicht,  was damals als bürgerlich galt und heute noch gilt. Atomkraft? Nein danke. Leistung? Auch nicht. Lieber organisierten wir einen Schulstreik gegen das neue Schulgesetz, ohne wirklich zu wissen, was drinstand. War aber auch nicht schlimm – denn es galt damals als chic, auch unter Lehrern, wenn Schüler den Habitus von Revolutionären pflegten und Unterrichtsstunden lieber in der Raucherecke als im Kursraum verbrachten. Statt mich abzuwatschen, zog mich die Schule durch. Noten gab‘s großzügig und gnadenhalber – auch in den Abiturprüfungen, denn die wurden von den einzelnen Lehrern damals ja in Eigenregie gestaltet. Da ließ sich leicht ein Auge zudrücken.

Und heute? Heute habe ich einen 16-jährigen (!) Sohn, der im nächsten Jahr Abitur machen wird. Der das Gymnasium in acht Jahren durchläuft (statt in zehn wie ich). Der einzelne Lehrer hat, die grundsätzlich keine Eins vergeben (allen Ernstes, warum auch immer). Der dreimal in der Woche erst spätnachmittags nach Hause kommt und dann immer noch Hausaufgaben zu erledigen hat. Und der vor Klausuren bis in die späten Abendstunden hinein paukt. Ein guter Schüler, ja, aber kein Überflieger. Und ein Schüler, der wesentlich mehr drauf hat, als ich in seinem Alter hatte.

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Welche Belege bieten denn die „WamS“-Autoren, um ihre These vom „geschenkten Abitur“ zu belegen? Checken wir sie doch mal.

  1. „Das Abitur ist der begehrteste Abschluss in Deutschland. Das Gymnasium die beliebteste Schulform. Zwar nimmt die Zahl aller Schulen ab, weil die Zahl der Schüler zurückgeht. Doch die Schulen, die das Abitur anbieten, wachsen noch. Vor allem Gymnasiasten gibt es immer mehr. Ihr Anteil an allen Schülern stieg von 30,7 auf 34,4 Prozent innerhalb eines Jahrzehnts. Vor 40 Jahren ging nicht mal ein Zehntel eines Jahrgangs aufs Gymnasium. In den Stadtstaaten, in großen Städten, aber auch in einem Land wie Nordrhein-Westfalen mit seinen 17 Millionen Einwohnern ist es heute dagegen mehr als die Hälfte.“Ja und? Was sagt das aus? Nur weil mehr Schüler heute das Abitur machen, muss es nicht einfacher sein. In Finnland liegt die Abiturientenquote sogar bei rund 70 Prozent – auf höherem Niveau als in Deutschland, wie wir dank PISA wissen.
  2. „Mit diesem Schuljahr aber können nicht einmal mehr schlechte Noten die Versetzung in den Klassen eins bis zehn gefährden. Das Sitzenbleiben ist abgeschafft, weil Bildungsexperten den pädagogischen Sinn der Maßnahme schon lange infrage stellen. Sitzenbleiben ist überall out.“Tatsächlich sinken in allen Bundesländern die Sitzenbleiberquoten – vor allem, weil heute in den Schulen besser gefördert wird. Tatsächlich steigt aber das Leistungsniveau in Deutschland, wie PISA 2012 belegt. Deutschland hat seit der ersten PISA-Studie signifikante Fortschritte gemacht. Das Sitzenbleiben war offenbar keine besonders wirkungsvolle Maßnahme, in der Breite angewandt jedenfalls nicht. 
  3. „Ist es wirklich ein Beleg für den Wert des Abiturs, wenn es immer mehr Arbeitgeber verlangen? Oder zeigt das nicht vielmehr, dass der Respekt vor dieser Leistung, vor den Abiturnoten gesunken ist?“Die steigenden Ansprüche von Unternehmen sollen belegen, dass das Abitur leichter geworden ist? Dann könnte man auch behaupten, dass Autos technisch immer schlechter werden, weil die Menschen sich immer größere davon kaufen. Eine schräge Argumentation. 
  4. „Die Kultusministerkonferenz stellt seit 2002 eine jährliche Statistik über die Abiturnoten in den Bundesländern auf. Die Dokumente gibt es nur auf Anfrage. Die Abiturienten in allen Ländern werden immer ‚besser‘, bekommen immer häufiger sehr gute Noten.“Abiturienten müssen zunehmend um ihre Zukunft kämpfen – weil immer mehr Fächer zulassungsbeschränkt sind. Mittlerweile sind zwei Drittel der Studienfächer mit einem Numerus Clausus belegt. Wer ein Wunschfach studieren will, benötigt heute ein sehr gutes Abitur. Und strengt sich dafür an. 
  5. „Die Notenschnitte steigen flächendeckend, die Unterschiede in den schulischen Anforderungen bleiben. Forscher stellen zwischen den Ländern in einzelnen Fächern Leistungsunterschiede von zweieinhalb Jahren fest. Leistungsunterschiede – nicht Noten-Unterschiede!“Stimmt! War aber immer schon so und trägt nichts zur Eingangsthese bei. 
  6. „In Berlin ist mittlerweile wie in Bayern das Zentralabitur üblich. Früher entwarfen Lehrer in den Ländern für ihre Klassen meist zwei Aufgaben, schickten sie an die Schulbehörde und erhielten eine davon in einem verschlossenen Umschlag zurück. Die Umstellung aufs Zentralabitur wurde mit Fairness begründet und damit, dass dessen Standards höher seien – siehe Bayern. Das war offenbar ein Trugschluss. (…) ‚In den Ländern, wo das Zentralabitur eingeführt wurde, wurden die Aufgaben oftmals leichter‘, sagt der Präsident der Universität Hamburg, Dieter Lenzen.“Natürlich wurden die einzelnen Aufgaben mit dem Zentralabitur leichter. Es hat aber auch nie jemand etwas anderes behauptet. Früher war es ja so, dass Lehrer ihre Schüler auf den Punkt vorbereiten und deshalb ein extrem hohes Spezialisierungsniveau erwarten konnten. Das ist heute anders, weil auch die Lehrer die Aufgaben nicht mehr vorab kennen. Dafür müssen sich die Schüler auf ein viel breiteres Spektrum möglicher Prüfungsfragen einstellen. Das soll alles in allem einfacher sein?

Aus eigener Erfahrung weiß ich: Das ist es nicht. Mein Sohn und seine Altersgenossen bekommen das Abitur weißgott nicht geschenkt. Das Gegenteil ist richtig: Hier kommt bald eine Generation hervorragend ausgebildeter, weltgewandter und sprachfertiger junger Menschen aus den Schulen an die Universitäten und in die Unternehmen und übernehmen in absehbarer Zeit dort die Ruder. Freuen wir uns darüber, statt ihnen die Qualifikation abzusprechen.

Hier geht es zu dem Beitrag “Abitur für alle!” aus der Welt am Sonntag.

Zum Bericht: Abi-Noten werden immer besser

 

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