BERLIN. Die Deutsche Kinderhilfe und der Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie (BVL) möchten mit einer Kampagne die schulischen Rahmenbedingungen für Kinder mit Legasthenie und/oder Dyskalkulie verbessern – dazu wird der 30. September zum „Tag der Legasthenie und Dyskalkulie ausgerufen“. Noch immer würden betroffene Kinder zu wenig schulisch unterstützt und „aussortiert“, hieß es nun auf einer Pressekonferenz. Thüringens Ministerpräsident Ramelow verwies dabei auf persönliche „bittere“ Erfahrungen.
Rainer Becker, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Kinderhilfe, sieht aufgrund von fehlenden schulischen Rahmenbedingungen und mangelhafter Umsetzung des Rechts auf inklusive Bildung die Bildungschancen von Kindern mit Legasthenie und Dyskalkulie noch immer erheblich beeinträchtigt. „Obwohl jedes unserer Kinder schon allein aus ethischen Gründen mit einbezogen werden müsste und wir darüber hinaus ihr Potential auch aus wirtschaftlichen Gründen nicht verschenken dürften, wird in unserem Bildungssystem, trotz erklärter Inklusionsabsichten, überwiegend immer noch Exklusion – also Ausschluss – praktiziert“, sagte er.
Prof. Dr. Michael von Aster, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der DRK Kliniken in Berlin, machte in seinem Eingangsstatement deutlich, dass Kinder, deren Legasthenie oder Dyskalkulie zu spät erkannt wird, häufig an psychosomatischen Folgeerkrankungen leiden. „Frühes Erkennen, sorgfältiges Diagnostizieren und individualisiertes und schulnahes Fördern hilft, chronisches Schulscheitern zu verhindern und damit die Chancen für eine gelingende Bildungs- und Persönlichkeitsentwicklung zu verbessern“, sagte er.
Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) pflichtete dem bei und sagte: „Ganz wichtig ist dabei – das weiß ich aus eigenem Erleben –, die Diagnose so früh wie möglich zu stellen. Denn es ist bitter, wenn man Legastheniker ist, dies aber nicht weiß und man das lange Zeit als Dummheit ausgelegt bekommt. Aber – das kann ich rückblickend auch sagen – es hat mich stark gemacht, weil ich meinen Weg gehen musste mit diesem Stigma.“
Wie die „Welt“ berichtet, wuchs Ramelow als jüngstes von vier Kindern in armen Verhältnissen auf. Der Vater starb früh, die Mutter musste nachts in der Großküche eines Hotels arbeiten, um die Familie durchzubringen. Die Schule beendete er zunächst mit einem Hauptschulabschluss. Er sei „hoch intelligent, aber stinkend faul“, bescheinigten ihm die Lehrer. In Wirklichkeit ist Ramelow Legastheniker. Aber die Lese-Rechtschreib-Schwäche wurde erst erkannt, als er mit 19 einen zweiten Anlauf auf der Berufsaufbauschule unternahm. Ramelow: „Ich hatte eine totale Schreibblockade, konnte nicht einmal mehr meine üblichen Hieroglyphen schreiben.“ Er ging zur Lehrerin, die ihn zum Schulpsychologen schickte. Und der diagnostizierte – endlich – Legasthenie.
Ramelow betonte die Wichtigkeit, für jedes Kind die passende Förderung zu finden, denn Lernschwierigkeiten wie Legasthenie und Dyskalkulie kämen in unterschiedlichen Ausprägungen vor, und diese gelte es zu berücksichtigen. So ist ein gemeinsam mit den Lehrern, Eltern und gegebenenfalls der Jugendhilfe erarbeiteter individueller Förderplan ein geeignetes Instrument, um Schülerinnen und Schüler zu unterstützen. „Dabei können auch der Einsatz technischer Hilfsmittel, das Erbringen von Leistungsnachweisen in mündlicher statt schriftlicher Form oder der zeitlich begrenzte Verzicht auf Noten Maßnahmen zur Herstellung von Chancengleichheit beziehungsweise zur Förderung sein“, sagte der Ministerpräsident.
Eltern fühlen sich allein gelassen
Dass eine frühe Diagnose viel Leid ersparen kann, weiß auch Knut Janßen, Vater von zwei betroffenen Kindern. „Könnten wir die Zeit zurückdrehen, so wäre es unser größter Wunsch, dass die Legasthenie früher erkannt wird. Es tut weh zu erleben, wie ein Kind an den Unterricht angepasst werden soll, wo doch eigentlich der Unterricht an das Kind angepasst werden muss“, sagt Janßen. Eltern fühlen sich bis heute allein gelassen. Das, was Schule nicht leisten könne, müsse außerschulisch nachgeholt werden, sofern Eltern dazu überhaupt fachlich und finanziell in der Lage seien. Kinder aus bildungsfernen Haushalten treffe es besonders hart, und sie erreichten oftmals keinen Schulabschluss.
Politisch bekommt die Situation für Familien eine besondere Bedeutung. Die schulrechtlichen Regelungen sind in jedem Bundesland anders gestaltet und die Bildungsperspektiven in Folge dessen sehr unterschiedlich. „Das führt sogar soweit, dass es zum Beispiel für die Dyskalkulie in sieben Bundesländern noch gar keine Regelung gibt. Familien müssten eigentlich bei der Arbeits- und Wohnortsuche darauf achten, in welches Bundesland sie mit ihrem Kind ziehen, um es schulisch abzusichern“, beklagt Tanja Scherle vom Vorstand des . Bundesverbands Legasthenie und Dyskalkulie (BVL).
Wünschenswert wäre, dass in den Schulen flächendeckend qualifiziert gefördert wird, damit alle Kinder schnelle und direkte Unterstützung bekommen. „Alle Schülerinnen und Schüler brauchen eine individuelle Förderung durch qualifizierte Pädagogen oder Therapeuten sowie einen Nachteilsausgleich und Notenschutz bis zum Schulabschluss, um einen begabungsgerechten Schulabschluss zu erreichen“, forderte Scherle. Als Pädagogin sieht sie auch eine besondere Herausforderung in der Qualifizierung von Pädagogen. Eine flächendeckende Weiterbildung finde bis heute nicht statt. Prinzipiell müsse beim Lehramtsstudium kein Kurs zu den Teilleistungsschwächen Legasthenie und Dyskalkulie belegt werden. Dies bedeute, dass durchaus nicht jede Lehrkraft über die Ursachen, Auswirkungen und notwendigen Unterstützungsmaßnahmen informiert sei – und so, trotz großem persönlichen Engagements, nicht nachhaltig fördern könne. News4teachers
Zum Bericht: Legasthenie-Verband: Neue Schulgesetze müssen für mehr Chancengleichheit sorgen
