BERLIN. Der Philologenverband hat gerade eine bundesweite Umfrage unter (Gymnasial-)Lehrkräften gestartet, um herauszubekommen, was eigentlich bekannt ist: Lehrerinnen und Lehrer sind im Beruf stark belastet. Das liegt in zahlreichen Herausforderungen begründet, die in den vergangenen Jahren auf die Schulen zukamen – zusätzlich zum ohnehin schon hohen Belastungsniveau: Lehrermangel, Inklusion und die Integration einer sechsstelligen Zahl von Flüchtlingskindern bringen die Kollegien zur Verzweiflung. Es gibt allerdings auch eine Ursache, die im Beruf selbst begründet liegt, warum Lehrer schneller auszubrennen scheinen als Angehörige anderer Berufsgruppen – die Schwierigkeit nämlich, persönliche Erfolge für sich festzuhalten. Drei renommierte Psychologen, Bernhard Sieland, Helmut Heyse und Marcus Eckert, haben sich des Problems angenommen. Ihr Beitrag erschien zunächst in der Zeitschrift „Grundschule“.
Erfolgreiches Scheitern
Fehlerfreies Handeln und Erfolge werden in unserer Gesellschaft – zumal in den Schulen – hoch gehandelt. „Alles richtig gemacht!“, scheint das höchste Lob zu sein. Doch es gibt auch in der pädagogischen Praxis fragwürdige Erfolge, „Pyrrhussiege“, deren Preis letztlich viel zu hoch ist.
Die Sehnsucht nach Erfolg führt dazu, dass man diesen selten hinterfragt beziehungsweise evaluiert. Sogar Misserfolge werden lieber geschönt und als Teilerfolge umgedeutet. Als Anlass für eigenes Veränderungslernen werden sie weder wertschätzt noch aufgegriffen.
Die Kunst, neugierig Fehler zu untersuchen und daraus zu lernen, wird zwar hin und wieder – nicht nur in der Schule – unter dem Stichwort „Fehlerkultur“ gefordert, ihre Ausübung aber mit großer Skepsis betrachtet oder gar verhindert. Wer dies tut, wird oft als „Nestbeschmutzer“ diffamiert, als könne man ein Erdbeben verhindern, indem man die Seismographen abschaltet. Allenfalls im Fußball werden verlorene Spiele systematisch ausgewertet, um für kommende Spiele daraus Lehren zu ziehen. Nicht wenige Personen, Schulen und Kollegien behaupten, eine positive Fehlerkultur zu haben. Man könnte dies sehr einfach feststellen, indem man prüft, ob die Betroffenen sich trauen, offen über Fehler und was sie daraus gelernt haben, zu berichten.
Gerade bei Lehr- und Lernprozessen sowie bei Entscheidungen für Ziele und Prioritäten gibt es aber eine Menge Fehlermöglichkeiten, die – mangels geeigneter Analysemodelle – mehr oder weniger häufig übersehen werden. So müssten zum Beispiel Leistungserfolge genau betrachtet werden, wenn sie trotz schlechter Leistungsvoraussetzungen erzielt wurden. Sofern es in der Schule nur auf Leistungsergebnisse ankommt, deren Zustandekommen aber nicht interessiert, läuft etwas schief. Dasselbe gilt, wenn Leistungserfolge zu schlechten Leistungsfolgen wie Erschöpfung, Entmutigung oder Streit um Urheberschaft führen, die nachfolgende Lern- und Leistungsprozesse belasten.
Der Beitrag ist der Ausgabe 8 / 2015 der Zeitschrift “Grundschule” mit dem Titel “Meine Erfolge! Wie Sie sich Anerkennung im Beruf verschaffen können” erschienen. Hier lässt sich das Heft bestellen oder lassen sich einzelne Beiträge herunterladen (kostenpflichtig).
Erfolg im Lehrerberuf? Das ist so eine Sache. Ist es doch gar nicht so einfach, die Entwicklung der Schüler auf das eigene Handeln zu beziehen. Grundsätzlich gilt: Erfolg hat zwei Ebenen – eine objektive und eine subjektive -, und mit beiden beschäftigen wir uns im nächsten Heft. So gilt es zunächst mal zu klären: Was sind denn die richtigen Maßstäbe für pädagogischen Erfolg?
Wir lassen uns von Bildungsforschern und Schulpraktikern erklären, mit welchen Instrumenten Lernfortschritte von Schülern sichtbar gemacht werden können. Und dann gibt es noch das persönliche Erfolgserleben: Psychologen zeigen auf, wie wir eine positive Sicht auf die Ergebnisse unserer Arbeit entwickeln können.
Erfolgsfixierung adelt Lehrpersonen oder Schüler als „Gute“ oder „Gewinner“ und grenzt sie gegen die Verlierer ab. Diese machen Fehler, ernten Misserfolge brauchen Hilfe und Beratung und verschwenden Ressourcen.
Handeln ist aber erst dann professionell, wenn es sowohl die Zielerreichung im Auge behält als auch die Wege dahin sowie die unerwünschten Nebenwirkungen. Profis reflektieren – wie gute Schachspieler – schon vor dem Zug unerwünschte Konsequenzen, auch über mehrere Züge hinweg.
Professionelles Handeln kann sich andererseits auch nicht mit unreflektierten Erfolgen begnügen. So kann etwa der impulsive Wutschrei einer genervten Lehrperson diese entlasten und die Schüler kurzfristig ruhig stellen. Der schnelle und kurzlebige Erfolg wird aber mit nicht tolerierbaren Nebenwirkungen erkauft. Unreflektierte Zufriedenheit mit Erfolgen ist auch für die Personal-, Unterrichts- und Organisationsentwicklung riskant. Ohne professionelles Evaluations-, Change- und Fehlermanagement ist bei den Beteiligten solcher Projekte eine wachsende Unzufriedenheit absehbar.
Dabei ist zu unterscheiden zwischen Fehlermanagement als kognitiver Reaktion und Bewältigung sowie Misserfolgsmanagement als emotiver Auseinandersetzung. Beides sind Herausforderungen für Lehrpersonen wie für Schüler. Sie sollten als Selbsthilfe vermittelt und als Fremdhilfe angeboten und auch durch organisationale Maßnahmen in der Unterrichtsgestaltung und der Schulentwicklung wirksam werden.
Diese Zusammenhänge können am Beispiel einer ambitionierten Schulleitung beschrieben werden, die einen Schulentwicklungspreis und die damit verbundenen Fördergelder für ihre Schule erreichen will.
- Sie arbeitet daran, um für Ihre Schule nicht nur die Fördersumme zu gewinnen, sondern auch, um das Schulimage und damit die Identifikation von Lehrpersonen, Schülern und Eltern mit ihrer Schule zu stärken. Die Schulleitung ignoriert in ihrem Eifer die Skeptiker im Kollegium, sondern erprobt verschiedene Strategien, um in der Gesamtkonferenz die Mehrheitsmeinung hinter sich zu bringen. Schließlich erlebt sie einen Abstimmungserfolg und glaubt sich am Ziel.
- Im Verlauf der Maßnahmen werden die schon vorher erkennbaren Probleme und Nebenwirkungen deutlich sichtbar; das Kollegium droht, sich zu spalten. In der Supervision versteht die Schulleitung möglicherweise, dass der kollegiale Zusammenhalt ein äußerst wichtiges Ziel und ein zerrüttetes Kollegium ein zu hoher Preis für das Fördergeld sind. Sie reflektiert verschiedene Lösungsmuster, um aus diesem Dilemma hinsichtlich ihrer Zieleffektivität und ihrer Nebenwirkungsrisiken herauszukommen, und trifft in der Folge vielleicht bessere Entscheidungen.
- Je nach Erkenntnistiefe kann sie jetzt auch frühere oder künftige Situationen entsprechend analysieren, die Bedeutung von Skeptikern neu sehen und eventuell bei kritischen Entscheidungen und eigener Unsicherheit mindestens eine Partnersupervision vorschalten.
Das Beispiel zeigt: Mit wachsender Berufspraxis ist nicht automatisch eine Steigerung des Professionalisierungsniveaus verbunden. Primär führt mehr Praxis nur zu einem Zuwachs an Verhaltenssicherheit. Das gilt allerdings auch für unprofessionelles Verhalten. Nur unter bestimmten Bedingungen ist mit einem Zuwachs an Verhaltensqualität zu rechnen.
Oft verhalten sich Dienstherren ähnlich unprofessionell, wenn sie immer neue Anforderungen und Ziel-„Vereinbarungen“ ohne Ressourcenabsicherung und Nebenwirkungscheck durchsetzen.
Die Schule ist ein interaktionsintensiver Ort, verschärft noch durch die Anwesenheitspflicht der Interaktionspartner. Alle Beteiligten bringen aus ihrem Alltag Erfolgs- und Misserfolgserwartungen, Frustrationen, Enttäuschungen mit samt ihrer Art und Weise, damit umzugehen. Gleichzeitig erleben und verarbeiten sie hier neue Erfolge und Misserfolge und nehmen beides mit zurück in ihre privaten Lebenswelten (vgl. Sieland u. a. im Druck).
In der Schule werden vielfältige Motive, zum Beispiel nach Leistung, Wertschätzung, Sicherheit, Kontakt und Macht, befriedigt, bedroht oder frustriert. Dabei haben die verschiedenen Akteure ungleiche Befugnisse und Mittel zur Machtausübung.
Jede Zielvorgabe für Schüler und Lehrpersonen – sei sie selbst gesetzt oder fremdbestimmt – birgt die Gefahr des Scheiterns; und das vor den Augen und in der Bewertung relevanter Bezugspersonen. Das ist angesichts der großen Heterogenität von Schülern und Lehrkräften sowie der Breite, Höhe und Verbindlichkeit der Leistungsansprüche kaum zu vermeiden.
Es gibt eine Reihe von Arbeitsbedingungen in der Schule, die die Wahrscheinlichkeit für Fehler, Misserfolge und Niederlagen steigern.
Für alle Beteiligten gilt:
- Sie handeln unter hohem Erwartungsdruck. Teilerfolge und Niederlagen geschehen öffentlich im Angesicht von Freund und Feind.
- Sie agieren in einer Zwangsgemeinschaft und können sich weder die Interaktionspartner noch den Stoff aussuchen.
- Ihre Interaktionen sind asymmetrisch, wobei die vermeintlich schwächeren (Schüler) mehr Spielräume für Fehlverhalten besitzen.
- Ihr Arbeitsaufwand sowie die kurz- und langfristigen Ergebnisse und Folgen der Tätigkeit sind oft nicht objektiv messbar. Sie müssen geschätzt werden, wobei Stimmungen und Perspektiven eine große Rolle spielen.
- Ihre beruflichen und privaten Ziele stehen in Zeitkonkurrenz. Sie haben selten ausreichende Zeit, die für eine gute Erfüllung der Aufgaben erforderlich wäre. Sie haben oft ein schlechtes Gewissen, weil ein großer Teil der Arbeit selbstgesteuert ohne definiertes Zeitkorsett zu erbringen ist.
- Die Zielerreichung hängt nicht nur von ihnen ab; sie werden aber für Misserfolge anderer verantwortlich gemacht.
- Ihre Arbeit ist anstrengend und es gibt wenig Fremdverstärkung.
Damit verbundenen sind mehr oder weniger effektive Bewältigungsformen mit ihren emotionalen, interaktionalen und organisationalen Folgen.
Der folgende Vergleich kann vielleicht die Sondersituation in der Lebenswelt Schule anschaulich machen. Zwischen einem Tischler und seinen Brettern bedarf es keiner Kooperation, um etwas aus den Brettern herzustellen. Tischler verfügen über Ziel-, Handlungs- und Ergebniskontrolle ihrer Arbeit. Lehrpersonen können ihre Ziele aber nur erreichen, wenn die Schüler auf einen kooperativen Lehr-Lernverbund eingehen. Sie können Schüler nicht „lernen machen“ und diese sich selbst auch nicht. Schüler brauchen eine Lernbegleitung und sind für ihren Lernprozess verantwortlich.
Faktisch sind alle Mitglieder der Schulgemeinschaft nur mitverantwortlich für die Lehr-Lernprozesse. Sie haben aber oft weder eine Zielkontrolle noch können sie die Wege dahin allein bestimmen und für das Ergebnis keine Garantie übernehmen.
Sigmund Freud (1937) zählte daher den Lehrerberuf (und damit auch die Schülerrolle) zu den „unmöglichen“ Berufen, weil man sich seines ungenügenden Erfolges sicher sein kann. Müsste man nicht deshalb Lehrpersonen und letztlich auch die Schüler als „erfolgreiche Verlierer“ ausbilden?
Hier geht es zur Fortsetzung “Lernen aus Niederlagen”.
Streitfall Dienstunfähigkeit: Wie Sie als verbeamteter Lehrer Ihr Recht bekommen können
Bernhard Sieland, Professor em. für Psychologie an der Leuphana Universität Lüneburg, ist gelernter Volksschullehrer, Dipl.-Psychologe, Psycho-Therapeut und Supervisor.
Diplom-Psychologe Helmut Heyse war bisw 2001 Referent Schulpsychologie bei der Bezirksregierung Trier. Danach entwickelte er und leitete er das Projekt Lehrergesundheit Rheinland-Pfalz.
Markus Eckert war bis 2010 Grund-, Haupt- und Realschullehrer – berufsbegleitend studierte er Psychologie. Er ist Mitbegründer des Instituts LernGesundheit (www.lehrergesundheit.eu)
Literatur:
- Freud, S. (1937): Endliche und unendliche Analyse. GW XVI.
- Heyse, H. (2011): Herausforderung Lehrergesundheit: Handreichungen zur individuellen und schulischen Gesundheitsförderung. Mit Downloadmaterial. Seelze: Klett-Kallmeyer
- Lauterbach, U. (2007). Lässig scheitern. Das Erfolgsprogramm für Lebenskünstler, München Kösel Verlag.
- Moldaschl, M. (2010). Zynismus-Controlling. Zur Messung von Nachhaltigkeit und Scheitern im Change. OrganisationsEntwicklung, 4/2010, 19-26.
- Nieskens, B., Schumacher, L. & Sieland, B. (2014). Gelingensbedingungen für die Entwicklung guter gesunder Schulen. Ein Leitfaden mit Empfehlungen, Checklisten und Arbeitshilfen. Hamburg & Düsseldorf: DAK-Gesundheit & Unfallkasse NRW. Verfügbar unter: http://www.lehrergesundheit.de.
- Sieland, B., Eckert, M. & Heyse, H. (2015). Stress und Leistungsängste in der Schule bewältigen. In K. Seifried, S. Drewes & M. Hasselhorn (Hrsg.), Handbuch Schulpsychologie. Psychologie für die Schule. Stuttgart: Kohlhammer.
