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Legasthenie und Dyskalkulie: An den Rand gedrängt – warum Teilleistungsstörungen zu wenig Beachtung finden

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BERLIN. Um das Thema Rechtschreibung wird eine aufgeregte politische Debatte geführt. Ist „Schreiben wie Hören“ verantwortlich für den Absturz der Leistungen von Dritt- und Viertklässlern, den aktuell VERA und die IQB-Studie dokumentieren? Die Diskussion drängt ein Thema in den Hintergrund, das ohnehin deutlich mehr Aufmerksamkeit bedürfte: Teilleistungsstörungen, also vor allem Legasthenie und Dyskalkulie. Der vorliegende Beitrag ist zunächst in der Zeitschrift “Grundschule” mit dem entsprechenden Themenschwerpunkt erschienen.

Hier lässt sich das Heft bestellen oder lassen sich einzelne Beiträge herunterladen (kostenpflichtig).

Kinder mit Legasthenie tun sich schwer, Ordnung im Buchstabensalat zu erkennen. Illustration: Shutterstock

An den Rand gedrängt

Die Vergleichsarbeiten VERA 2017 in Deutsch und Mathematik sind für die Drittklässler in Deutschland alles in allem nicht gut ausgefallen – offenbar sogar so schlecht, dass die meisten Bundesländer es vorgezogen haben, die Ergebnisse nicht zu veröffentlichen. In Berlin allerdings wurde der politische Druck so groß, dass nachträglich die Daten herausgegeben wurde. Die Ergebnisse sind desaströs.

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Rund 24.000  Berliner Grundschüler waren im vergangenen Jahr getestet worden. Die aktuellen Ergebnisse von VERA 3, so heißt es in einem Bericht des Berliner „Tagesspiegel“, zeigten ein bestürzendes Maß an Fehlleistungen. Drei Viertel der im Schnitt Neunjährigen würden nicht den von der Kultusministerkonferenz gesetzten Regelstandard im Bereich der Rechtschreibung schaffen (Stufe drei von fünf). Die Hälfte bleibe dabei sogar unter den Mindestanforderungen – sie lägen somit auf der untersten der fünf Kompetenzstufen. Ein weiteres Viertel erreiche nur den „Mindeststandard“, also Stufe zwei.

Beim Lesen sieht es etwas besser aus: Hier blieben 30 Prozent unter Stufe drei, dem Mindeststandard. Immerhin 18 Prozent erreichten die beste Stufe. In Mathematik würden nicht einmal zehn Prozent der Schüler zur Spitzengruppe gehören – mehr als ein Drittel hingegen schaffe nicht mal die einfachsten Aufgaben.

Die Zeitschrift 'Grundschule'

Dieser Beitrag und weitere zum Thema Legasthenie und Dyskalkulie sind in der Zeitschrift “Grundschule” mit dem Titel “Probleme richtig deuten” erschienen. Hier lässt sich das Heft bestellen oder lassen sich einzelne Beiträge herunterladen (kostenpflichtig).

Teilleistungsstörungen erschweren den Lernprozess von Kindern erheblich: Bei Dyskalkulie fehlt ihnen das nötige Mengenverständnis und die Zählfertigkeiten, um Grundrechenarten zu erlernen. Bei Legasthenie bleibt die Schrift lange ein “Code”, der kaum zu entschlüsseln ist. Werden solche Teilleistungsstörungen nicht rechtzeitig erkannt, kämpfen die Kinder häufig mit schlechten Noten, Klassenwiederholungen und einem geringen Selbstwertgefühl. Daher sollten betroffene Schülerinnen und Schüler möglichst früh gefördert werden – schulisch und außerschulisch. Wie Grundschulen mit dieser Herausforderung umgehen, welche Fördermöglichkeiten es gibt und wie die richtige Diagnose überhaupt gelingt, beantwortet diese Ausgabe der “Grundschule”.

Diese und ähnlich schwache Resultate beim fast zeitgleich herausgekommenen IQB-Viertklässlervergleich befeuern eine politische Debatte. Für konservative Politiker ist die Verantwortung für das Desaster bereits klar: Die (Grundschul-)Lehrer sind schuld. In Baden-Württemberg treibt CDU-Kultusministerin Susanne Eisenmann die Konfrontation gerade auf die Spitze. Angesichts der für das Ländle desaströsen IQB-Studie verstieg sie sich zu der Aussage: „Wir haben nicht zu wenig Lehrer. Die Frage ist, sind sie an der richtigen Stelle? Sind sie richtig ausgebildet? Sind sie richtig fortgebildet?“ Ihre Antwort auf diese Fragen: Eisenmann verbot die Methode „Schreiben wie Hören“ – und schob damit den Grundschullehrkräften die Verantwortung für den Absturz Baden-Württembergs im IQB-Länderranking zu.

Gestiegene Belastungen

Wie eine Methode aus den 70-er Jahren schuld daran sein kann, dass sich ein einzelnes Bundesland seit 2011 drastisch verschlechtert hat (das davor aber Spitzenleistungen aufwies, wie überhaupt die deutschen Grundschulen bei ILGU und TIMSS noch vor fünf Jahren zur Weltspitze gehörten), dazu gab es keine Erklärung. Kein Wort war von Eisenmann auch zu den durch die Inklusion, die Integration und den Lehrermangel in den vergangenen Jahren massiv gestiegenen Belastungen für die Kollegien zu hören. Damit nicht genug: Das Kultusministerium in Stuttgart forderte Eltern unlängst indirekt dazu auf, Grundschulen zu melden, die vermeintlich „Schreiben wie Hören“ weiterhin praktizieren. Es teilte mit, die Schulaufsicht werde bei entsprechenden Hinweisen eingeschaltet.

Das Problem: Die politische Auseinandersetzung über „Schreiben wie Hören“ (und natürlich auch die tatsächliche Belastungssituation der Grundschullehrkräfte) drückt ein Problem an den Rand, das ohnehin mehr Aufmerksamkeit bräuchte – nicht weniger: Teilleistungsstörungen, also vor allem Legasthenie und Dyskalkulie.

Bis heute gelingt es den Schulen nicht ausreichend, die von einer Legasthenie oder einer Dyskalkulie betroffenen Kinder zu erkennen und zu fördern. Der zunehmende Lehrermangel, steigende Herausforderungen durch Inklusion und Integration sowie eine mitunter fehlende Förderqualifikation der Lehrkräfte macht es vielen Schulen schwer, individuelle Konzepte auszuarbeiten und umzusetzen. Das Ausmaß der Betroffenheit ist groß: Schätzungen zufolge sind immerhin zehn Prozent aller Schülerinnen und Schülern von Legasthenie oder Dyskalkulie betroffen. Wertvolle Potenziale werden verschenkt, wenn man die Stärken der betroffenen Schüler nicht erkennt, nicht fördert – und  die Kinder womöglich aufgrund ständiger Misserfolgserlebnisse sogar  seelisch krank werden.

Schnelle Hilfe

Wünschenswert wäre, dass Lehrerinnen und Lehrer flächendeckend qualifiziert werden, damit betroffene Kinder schnelle und direkte Unterstützung bekommen. Die schulrechtlichen Regelungen sind allerdings in jedem Bundesland anders gestaltet und die Bildungsperspektiven in Folge dessen sehr unterschiedlich. Insbesondere für die Dyskalkulie gibt es in den meisten Bundesländern noch keine schulrechtlichen Regelungen, geschweige denn gut qualifizierte Förderlehrer, die individuell fördern können. Selbst in der KMK-Empfehlung für Schüler mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen, Rechtschreiben und Rechnen grenzt man die Problematik der Dyskalkulie aus. Man sieht Dyskalkulie noch nicht ausreichend wissenschaftlich erforscht. Es liegen allerdings ausreichend wissenschaftliche Erkenntnisse zur Rechenstörung vor. Mittlerweile wurde eine S3-Leitlinie zur Diagnostik und Behandlung der Rechenstörung publiziert, die die gesicherten Erkenntnisse zusammenfasst.

Durch die prekäre Situation in den Schulen durch fehlende Grundschullehrer kann oftmals noch nicht einmal der Regelunterricht anforderungsgerecht abgebildet werden, geschweige denn eine individuelle Förderung. Die bisher praktizierte Stoffwiederholung erfüllt in den meisten Fällen nicht die Anforderungen der Schüler mit einer Teilleistungsstörung. Die Fördergruppen, die es an einigen Schulen gibt, sind in den meisten Fällen sehr inhomogen und mit zu vielen Kindern besetzt, sodass es gar nicht gelingen kann, jedem Kind gerecht zu werden. Die Lehrkräfte werden mit dieser für alle Beteiligten unbefriedigenden Situation allein gelassen und fühlen sich überfordert, weil sie selber sehen, wie schnell sie und die Kinder an ihre Grenzen stoßen. Zeit für die Beratung von Eltern, welche außerschulischen Maßnahmen hilfreich sein könnten, bleibt in den meisten Fällen auf der Strecke. Insbesondere in den Fällen, wo auch die Eltern mit der Situation überfordert sind und keine außerschulische Förderung finanzieren können, werden die Kinder aus unserem Schulsystem ausgegrenzt.

Wichtigste Zeit

Es muss daher die Aufgabe unseres Bildungssystems sein, Lehrer in der Aus- und Weiterbildung besser zu qualifizieren, damit die bisher fehlenden Kompetenzen zur Förderung von Schülern mit einer Legasthenie oder Dyskalkulie erworben werden. Ebenso müssen Instrumente und Netzwerke geschaffen werden, die sicherstellen, dass Kinder mit einer Legasthenie oder Dyskalkulie frühestmöglich erkannt werden und durch eine qualifizierte Diagnostik die Ursachen der Lernstörungen herausgefunden werden. Nur so kann es gelingen, die richtigen Interventionsmaßnahmen einzuleiten und dem Kind nachhaltig zu helfen. Insbesondere die Grundschulzeit ist die wichtigste Zeit für Kinder, die Basiskompetenzen im Lesen, Rechtschreiben und Rechnen zu erwerben. Ohne eine Absicherung dieser Basiskompetenzen wird der gesamte Schulweg eine große Hürde darstellen und den Kindern nicht die Bildungschancen ermöglichen, die sie aufgrund ihrer allgemeinen Begabung hätten.

Best-Practice-Beispiele an Schulen, wo Netzwerke aufgebaut wurden, Kompetenzzentren geschaffen und gut qualifizierte Lerntherapeuten eingebunden wurden, zeigen, dass es gelingen kann, Schüler mit einer Legasthenie oder Dyskalkulie gut aufzufangen und ihnen auch den Übergang zum Gymnasialzweig zu ermöglichen. Mit einer individuellen Förderung und anforderungsgerechten Nachteilsausgleichen werden auch Kindern mit Teilleistungsstörungen Bildungsperspektiven ermöglicht, die in einen Hochschulabschluss münden. Dies erfordert allerdings ein Umdenken in unserem Bildungssystem, das die Probleme dieser Kinder erkennt und Lösungen bereitstellt, die weit über das hinausgehen, was heute gelebte Praxis in unseren Schulen ist. Lehrer dürfen nicht weiterhin allein gelassen werden, sondern müssen Materialien an die Hand bekommen, mit denen sie bereits frühzeitig standardisierte Lese-, Rechtschreib- und Rechentests durchführen können. Darauf aufbauend müssen individuelle Förderpläne erstellt und die Förderung mit gut evaluierten Fördermaterialien qualifiziert durchgeführt werden – und das auch als Einzelförderung oder in Kleinstgruppen. Bis das Kind den Anschluss an die Klasse erreicht hat, muss es durch Nachteilsausgleiche entlastet und seelisch stabil gehalten werden.

Jedes Kind will Lesen, Schreiben und Rechnen lernen. Nicht jedes Kind hat dafür die gleichen Grundvoraussetzungen.

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Wichtig zu wissen! – Lese-Rechtschreibstörung

Eine Lese-Rechtschreibstörung bezeichnet anhaltende und bedeutsame Schwächen im Erlernen des Lesens und/oder Rechtschreibens, wenn diese nicht auf das Entwicklungsalter, eine weit unterdurchschnittliche Intelligenz, eine nicht ausreichende Beschulung, unzureichende Beherrschung der Unterrichtssprache, widrige psychosoziale Umstände, unkorrigierte Seh- oder Hörstörungen, neurologische oder psychische Erkrankungen zurückzuführen sind.

Erste Anzeichen einer Lesestörung äußern sich häufig bereits in den ersten Wochen des Erstleseunterrichts. Betroffenen Kindern fallen die Unterscheidung und das Erkennen von Graphemen- und Phonemen sehr schwer und es sind demnach auch große Probleme beim Einprägen der Graphem-Phonem-Korrespondenzen zu beobachten. Dadurch lesen die Kinder häufig sehr langsam, stockend und fehlerhaft. Im weiteren Verlauf der Leseentwicklung zeichnet sich die Lesestörung oftmals durch ein stark verlangsamtes Lesen aus. Dadurch erreichen die Betroffenen häufig auch kein altersgerechtes Leseverständnis und aus dem Gelesenen können nur schwer Zusammenhänge erkannt werden.

Eine Rechtschreibstörung tritt ebenfalls häufig gleich mit Beginn des Schriftspracherwerbs auf und kann sich zunächst durch Schwierigkeiten bei der Unterscheidung von Phonemen und Graphemen, der Graphem- und Phonemerkennung sowie der Segmentierung der Sprechwörter in einzelne Phoneme zeigen. Das Erlernen und Einprägen der Phonem-Graphem-Beziehungen ist oftmals erschwert und so kann es zu Schreibungen kommen, die in keinem oder nur geringem lautlichen Zusammenhang mit dem gesprochenen Zielwort stehen. Im weiteren Verlauf sind Schwierigkeiten im Einprägen der korrekten Schreibweise von Wortbestandteilen und Wörtern zu beobachten. Die betroffenen Kinder haben große Schwierigkeiten, orthographische Regelmäßigkeiten zu verinnerlichen und Wörter regelkonform zu schreiben. Die Art der Rechtschreibfehler erlaubt keinen eindeutigen Rückschluss darauf, ob eine Rechtschreibstörung vorliegt.

Wichtig zu wissen! – Dyskalkulie

Eine Rechenstörung bezeichnet eine Beeinträchtigung von Rechenfertigkeiten, wenn diese nicht allein durch eine allgemeine Intelligenzminderung, auf das Entwicklungsalter oder eine unangemessene Beschulung erklärbar ist. Die Symptome einer Dyskalkulie umfassen alle Bereiche des Rechnens, wobei betroffene Kinder unterschiedliche Stärken und Schwächen aufweisen. Nicht alle Bereiche müssen daher gleich stark betroffen sein. Rechenschwierigkeiten zeigen sich vor allem im Zählen und beim Transkodieren von Zahlwörtern und arabischen Zahlen, im Lernen arithmetischer Fakten (Einmaleins) und bei der Anwendung mathematischer Operationen. Die Basisfertigkeiten, d. h. das Mengen- und Zahlenverständnis, die Zählfertigkeit sowie einfache Additions- und Subtraktionsaufgaben. insbesondere das Zahlen- und Mengenverständnis sind bei einer Dyskalkulie in vielen Fällen auch betroffen.

Schüler, die von einer Dyskalkulie oder einer Lese-Rechtschreibstörung betroffen sind, sehen sich oft von Beginn ihrer Schullaufbahn an kaum zu bewältigenden Leistungsanforderungen ausgesetzt. Viele Kinder versuchen ihre Schwierigkeiten zu verbergen. Sie entwickeln aufwendige Kompensationsstrategien, lernen ganze angekündigte Diktate, Lesetexte oder Rechenaufgaben auswendig und schaffen es so, manchmal sogar über mehrere Jahrgangsstufen hinweg, ihre Deutsch- und Mathematiknoten im durchschnittlichen Bereich zu halten. Bei zunehmendem Anforderungsniveau in höheren Klassen gelingt dies oft nicht mehr, die Schulleistungen der Kinder nehmen rapide ab und die Lese-, Rechtschreib- und/oder Rechenstörung wird erkennbar.

Gegen die Verunsicherung unter Lehrern: Welche Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen überhaupt noch erlaubt sind

 

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