SIEGEN. Abstrakte Aufgaben mit dem Alltag von Schülern zu verbinden, gehört zum pädagogischen Grundrepertoire. Gerade schwächeren Schülern sollte diese Art der Veranschaulichung zugute kommen. Doch das kann nach hinten losgehen, wie der Siegener Bildungsforscher Jörg Siewert ermittelt hat.
Manche Jugendliche schaffen mit Leichtigkeit ein Einser-Abitur, andere kämpfen um jede gute Note. Warum entwickeln sich junge Menschen unterschiedlich und ist die Auseinanderentwicklung gerecht? Jörg Siewert von der Universität Siegen hat dazu drei Jahre an fünf Gesamtschulen geforscht. 750 Schüler haben er und sein Team von der 5. bis zur 7. Klasse begleitet und ihre Leistungsentwicklung beobachtet. Sie fanden heraus, dass die Art der Aufgabenstellung eine große Rolle spielt, wie Jugendliche mit Aufgaben zurecht kommen. Daneben bestätigte sich der Zusammenhang von sozialer Herkunft der Eltern und Schulleistungen ihrer Kinder.
Der Ausgangspunkt für die Forschung war eine Studie aus den USA. Demnach entwickeln sich Kinder vor allem während der Sommerferien herkunftsspezifisch auseinander: Wohlhabende Eltern schicken ihre Kinder in den dreimonatigen Ferien oft in Freizeiten, wie Weltall-, Mathe- oder Spanisch-Camps. Finanziell schlechter gestellte Eltern könnten sich das dagegen meist nicht leisten.
Um zu untersuchen, ob auch in Deutschland die Urlaubsaktivitäten möglicherweise den entscheidenden Unterschied ausmachten, führten die Forscher Tests in Mathe und Schriftsprache jeweils am Anfang und am Ende der Sommerferien durch. Wesentliches Ergebnis: In Deutschland gibt es diesen Ferien-Effekt nicht. Die unterschiedliche Entwicklung von Kindern an deutschen Schulen vollzieht sich während der Schulzeit, gewissermaßen unter den Augen der Lehrer.
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Darüber, ob die Lehrer Einfluss auf die Entwicklung nehmen könnten, ist damit freilich noch nichts gesagt. Doch zeigte sich, dass auch die Gestaltung des Unterrichts die Schülerleistungen unterschiedlich beeinflusst. Mithilfe von Tests fand Siewert heraus, dass es häufig von der Art der Aufgabenstellung abhänge, ob ein Schüler eine Aufgabe versteht oder nicht. „Viele Lehrer möchten vor allem in den Naturwissenschaften den Alltagsbezug herstellen, damit die Schüler den Nutzen für ihr eigenes Leben verstehen“, erklärt Siewert. „Das ist ein Trend in den Schulen, der prinzipiell gut und richtig ist. Genau der kann aber problematisch sein.“
Siewert erläutert diesen Zusammenhang mit einem schlichten Beispiel: 144 Menschen stehen vor einem Aufzug, in den maximal zehn Personen passen. Wie oft muss der Aufzug fahren, um alle Personen nach oben zu transportieren? Um solche alltagsbezogenen Aufgaben zu lösen, müssen die Schüler zuerst die Transferleistung schaffen, aus der Alltagsaufgabe die dazugehörige fachliche Methode auszuwählen, also das mathematische Dividieren. Die mathematische Lösung wäre 14,4 abgerundet also 14. In einer weiteren Transferleistung müssten die Schüler aber verstehen, dass sie Menschen nicht abrunden können, das richtige Ergebnis also 15 wäre.
Wie die statistische Auswertung ergab, fallen Kindern aus bildungsfernen Familien offenbar solche Transferleistungen vom Alltag in das fachliche Denken und Arbeiten der Schule gesehen schwerer als Kindern aus bildungsnahen Familien. „Beispielsweise fielen Antworten wie: ‘Naja, einige der Menschen haben sicher keine Lust so lange zu warten und laufen lieber. Vielleicht ist der Aufzug auch nicht bei jeder Fahrt voll besetzt, weil es sonst zu eng wird.‘
Einige der Kinder können die Verbindung zwischen Alltag und Mathematik nicht herstellen“, so Siewert. „Wenn wir sie aber fragen, was 144:10 ist, kommen sie selbstverständlich auf das richtige Ergebnis. Das zeigt: Es hat in diesem Fall nichts mit mathematischer Intelligenz zu tun, ob ein Kind Erfolg hat. Vielmehr geht es darum, den Code des Schulsystems zu verstehen.“
Dass Kinder aus bildungsfernen Familien diesen Code nicht so gut verstehen wie Kinder aus bildungsnahen Familien, hängt häufig mit den Eltern zusammen. „Bildungsnahe Eltern mit einer hohen Schulbildung verstehen Schule als System recht gut. Sie treten bei Elternsprechtagen entsprechend selbstbewusst auf oder verstehen, wie wichtig Hausaufgaben sind“, sagt der Siegener Wissenschaftler. Bildungsferne Eltern hätten dagegen oftmals eine distanzierte Haltung gegenüber der Schule, weil sie selbst die Schule aus ihrer eigenen Vergangenheit eher mit Misserfolgen assoziieren.
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„Es ist bewiesen, dass in nahezu keinem anderen westlichen Land der Bildungserfolg so stark von der sozialen Herkunft der eigenen Familie abhängt, wie in Deutschland“, sagt Siewert. Die Mechanismen seien sehr schwer zu durchschauen, vieles geschehe unbewusst und ungewollt. „Bis auf wenige Ausnahmen wollen schließlich alle Eltern das Beste für ihre Kinder. Nur: Die einen wissen besser, was sie selbst dazu leisten müssen als die anderen“, so der Bildungswissenschaftler.
Um mehr auf das Thema Bildungsgerechtigkeit aufmerksam zu machen, unterstützt Siewert daher das Projekt seines Kollegen Hans Brügelmann. Die von Prof. Brügelmann ins Leben gerufene Initiative möchte den Bildungsrat reaktivieren, der schon einmal in den 1970er Jahren aktiv war. „Was muss in der Schule passieren, damit wir zu einer besseren Bildungsgerechtigkeit kommen?“ fasst Siewert die Kernfrage dieser Initiative zusammen. (zab)
