MÜNCHEN. Bayern liegt in Schülerleistungsvergleichen wie dem IQB-Bildungstrend stets mit vorne. Was dabei allerdings keine Rolle spielt, das ist der Stand der Inklusion – die Teilhabe von behinderten Schülern in den Regelschulen also. Aktuelle Studien wie der „Kinderrechte-Index“ des Deutschen Kinderhilfswerks attestieren dem Freistaat, die Inklusion bislang weitgehend zu ignorieren – zehn Jahre nach Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention durch den Bundestag. Was das in der Praxis bedeutet, illustriert eine Posse, die aktuell in Bayern die Runde macht.
Der zwölfjährige Daniel (Name geändert) kam als Frühgeburt zur Welt. „Er kämpfte sich ins Leben“, so berichtet seine Mutter. Allerdings ist der Junge körperbehindert und benötigt eine Schulbegleitung, um die Grundschule besuchen zu können.
Als die erkrankt war – ausgerechnet am Nikolaus-Tag, als eine Schulfeier auf dem Programm stand – informierte die Mutter die Schulleitung, dass eine Freundin der Familie, die Daniel gut kennt, die Begleitung ausnahmsweise übernehmen würde. Das sollte möglich sein, denkt man. Zumal es nur um eine Schulfeier ging. Tatsächlich aber verwehrte die Schulleitung dem Jungen, seiner Begleiterin sowie seiner Mutter, die den Weg zur Schule mitgegangen war, den Einlass. „Die Schulleiterin meinte, sie genehmigt das nicht, weil sie kein erweitertes Führungszeugnis für die Vertretung habe“, so berichtet die Mutter. Der Streit eskalierte. Die Direktorin rief die Polizei – und die schickte den Jungen und die beiden Frauen nach Hause. Die Familie müsse keine Konsequenzen befürchten, weil der Junge seiner Schulpflicht nicht nachkomme, erklärten die Beamten noch absurderweise.
Ist der Fall exemplarisch, wie Bayern mit behinderten Schülern umgeht?
Die Posse schlägt Wellen. Die Regierung von Oberbayern stellte sich nämlich hinter die Schule. Die Behörde befand: Eine nicht ausgebildete Ersatzbegleitung sei „nicht praktikabel“. Für die Mutter – die sich und ihren Sohn immer wieder Widerständen seitens Schulverantwortlicher ausgesetzt sah – ist der Fall hingegen exemplarisch, wie in Bayern mit behinderten Schülern umgegangen wird. „Seit Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert hat, dürfen die Eltern behinderter Kinder den Lernort frei wählen. Jedoch hat Bayern die bayerischen Schulgesetze nicht novelliert. Das hat dazu geführt, dass sich die inklusiven Lernbedingungen an den Regelschulen bis heute kaum verbessert haben“, so erklärt sie.
Tatsächlich gibt es in der ganzen, rund 25.000 Einwohner zählenden Stadt, in der der Fall spielt, bis heute keine einzige inklusive Grundschule, wie der „Merkur“ berichtet. Ein sonderpädagogisches Förderzentrum gibt es im Ort dagegen nach wie vor. Dorthin möchten die Eltern ihr Kind aber nicht schicken. „Wir lehnen das Sonderschulsystem in Bayern ab und wünschen eine wohnortnahe inklusive Bildung“, sagen sie. Sie möchten nicht, dass ihr Sohn in „Sonderwelten der Behinderteneinrichtungen, die eine Teilhabe unmöglich machen“, groß wird.
“Die Last der Inklusionwird auf die Lehrer abgewälzt”
Mittlerweile hat sich der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV) eingeschaltet. „Die Inklusion, die 2011 in Bayern per Gesetz eingeführt wurde, funktioniert in der Realität bis heute nicht richtig“, sagt Hans-Peter Etter, der 26 Jahre lang die Rechtsabteilung des Verbands leitete, gegenüber der „Süddeutschen Zeitung“. So sei versäumt worden, die Schulen entsprechend auszustatten und mehr Personal einzustellen. Weder sei die Barrierefreiheit verbessert worden, noch gebe es zusätzliche Pädagogen oder multiprofessionelle Teams. „Es gibt erheblichen Handlungsbedarf. Es geht nicht an, dass die ganze Last der Inklusion auf die Lehrkräfte abgewälzt wird und diese bei Problemen allein gelassen werden“, betont Etter gegenüber dem Blatt. Inklusion scheitere an der Realität.
Tatsächlich liegt Bayern in Sachen Inklusion gemessen an der Exklusionsquote, dem Anteil von Schülern an Förderschulen also, mit 4,8 Prozent (2017) im hinteren Drittel der Bundesländer. Nur die ostdeutschen Länder (außer Berlin) und Baden-Württemberg weisen eine höhere Exklusionsquote auf. Mehr noch: Entgegen dem Bundestrend und den Vorgaben der UN-Konvention ist die Exklusionsquote im Freistaat zwischen 2008 und 2017 sogar gestiegen, wie eine Studie der Bertelsmann Stiftung vor gut einem Jahr ergab. Heißt: In Bayern gehen noch mehr Kinder auf eine Förderschule als vor Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention durch den Bundestag.
Wie aus dem aktuellen „Kinderrechte-Index“ des Deutschen Kinderhilfswerks hervorgeht, werden behinderte Schüler in Bayern gegenüber den meisten anderen Bundesländern doppelt eingeschränkt: Sie haben keinen Rechtsanspruch auf inklusiven Unterricht – und dann besteht auch noch ein Ressourcenvorbehalt. Heißt: Ob ein behindertes Kind einen Platz an einer Regelschule bekommt, ist letztlich Willkür (News4teachers berichtete).
Der Verband wendet sich gegen Druck von Elternseite auf Lehrer
„Wir fordern schon seit langem mehr Personal, multiprofessionelle Teams und Schulassistenten für die Regelklassen, in denen Schüler mit einer Einschränkung unterrichtet werden“, sagt BLLV-Vertreter Etter der “Süddeutschen” zufolge. Auch wenn die Lehrer willens seien, alle Kinder adäquat zu unterrichten, seien viele überfordert, zumal die Klassenstärken nicht reduziert würden.
Das Engagement von Daniels Mutter für die Inklusion begrüßt Hans-Peter Etter. Die Art und Weise, wie die 51-Jährige nach der Abweisung am Nikolaus-Tag gegen die Schulleitung vorgegangen ist, kritisiert er jedoch. „Hier entsteht der Eindruck, dass eine Mutter gegen die Schule arbeitet. Für Lehrer und die Direktorin ist das eine sehr schwierige und belastende Situation – zumal sie das Kultusministerium, den Anwalt und die Presse informiert hat“, sagt Etter. Wenn Eltern Druck machen, würden sich Lehrkräfte allgemein eher von den betreffenden Schülern distanzieren, um ja nichts falsch zu machen. Etter. „Die Beziehung leidet darunter.“ Agentur für Bildungsjournalismus
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