BERLIN. Zwangsferien wegen Coronavirus? Was in Italien seit heute Realität ist, ist in Deutschland zurzeit nicht geplant. Der Deutsche Lehrerverband meint: “Das wäre ein Maßnahmen-Overkill.” Tatsächlich hätten bundeweite Schulschließungen Auswirkungen weit über den Unterricht hinaus – Millionen von Beschäftigte, die sich dann um ihre Kinder kümmern müssten, könnten nicht mehr arbeiten. Und das beträfe auch das Gesundheitssystem.
Berlin, Würzburg, Aachen – hier haben viele Schüler derzeit frei, weil es im Umfeld ihrer Schule Infektionen mit dem neuen Coronavirus gegeben hat. Eine bundesweite Schulschließung halten Experten etwa vom Deutschen Lehrerverband allerdings für nicht gerechtfertigt. Lange Komplettschließungen ohne «konkret nachgewiesene, bestätigte Verdachtsfälle» halte er für falsch, sagte Verbandspräsident Heinz-Peter Meidinger. «Das wäre ein Maßnahmenoverkill.»
Die Diskussion um mögliche Schulschließungen wird in Deutschland durch die Entscheidung der italienischen Regierung angefacht. Die hatte am Mittwoch beschlossen, Kindergärten, Schulen und Hochschulen bis Mitte März, möglicherweise auch länger, geschlossen zu lassen. Italien ist das Land in Europa mit den meisten bestätigten Infektionen. Mittlerweile sind es rund 3100 Fälle, mehr als 100 Menschen starben bisher.
Verunsicherte Eltern, Lehrern und Schüler
Auch in Deutschland sei die Verunsicherung bei Eltern, Lehrkräften und Schülern hoch, erläuterte Meidinger, auch weil keine einheitliche Verfahrensweise in den Bundesländern erkennbar sei. Letztendlich müsse eine Güterabwägung vorgenommen werden: «Rechtfertigt der Grad der gesundheitlichen Gefährdung, dass mit der Schließung von Schulen Abschlussprüfungen ausfallen und die gesamte Bildungsplanung von Kindern in Gefahr gerät.»
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sagte bereits nach einem Krisentreffen der Fachminister von Bund und Ländern am Mittwoch, dass er pauschale Schul- oder Universitätsschließungen nicht für angemessen halte (News4teachers berichtete). «Wenn durch flächendeckende Schulschließungen in Deutschland zum Beispiel Pflegekräfte und Ärzte fehlen, weil sie zum Beispiel alleine erziehen und sich darauf verlassen, dass Schulen und Kindergärten zeitnah zur Verfügung stehen, dann hat das auch wieder Folgen für das Gesundheitswesen.» Landesweite Schulschließungen kann sich der Gesundheitsminister von Nordrhein-Westfalen, Karl-Josef Laumann (CDU), trotz steigender Infektionen in NRW nicht vorstellen.
Elternvertreter kritisieren schlechte Hygiene in Schulen
«Zum jetzigen Stand sind flächendeckende Schließungen von Schulen kein Thema und nicht notwendig», sagte auch Baden-Württembergs Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) am heutigen Donnerstag. Der Vorsitzende des baden-württembergischen Landeselternbeirats, Carsten Rees, hält es ebenfalls für übertrieben, Kindergärten, Schulen und Universitäten nun auch in Deutschland zu schließen. «Das würde weit über den Schulbetrieb hinaus sicherlich zu einem Chaos führen», erklärte Rees. Das Problem sei komplex: «Wenn wir wenige Fälle haben, müssen wir keine Schulen schließen. Wenn wir aber ganz viele Fälle haben, ergibt das auch keinen Sinn mehr, weil man sich dann überall anstecken kann. Schwierig kann die Entscheidung im Mittelfeld werden.» Sinnvoller sei es, stattdessen Hygienevorschriften einzuhalten. Der Zustand der Toiletten an einigen Schulen sei desolat. Mancherorts könne man sich gar nicht die Hände waschen, weil keine Seife da sei.
Das Robert Koch-Institut betonte, dass grundsätzlich die örtlichen Gesundheitsämter über Schulschließungen entschieden – also kein Bundesland und keine Bundesregierung.
Schulschließungen vereinzelt angeordnet
Einige Gesundheitsämter haben bereits zumindest vorübergehend eine Schulschließung angeordnet. In der Städteregion Aachen, wo es zuletzt 25 nachgewiesene Sars-CoV-2-Fälle gab, wurden fünf Schulen und eine Kita für diese Woche geschlossen. Auch an Gymnasien in Köln und Schwalmtal (Kreis Viersen) war der Unterricht ausgefallen. In Berlin waren zuletzt zwei Schulen geschlossen, in Würzburg und Unterhachingen je eine. In Stade (Niedersachsen) dagegen war zwar ein Lehrer eines Gymnasiums positiv getestet worden – einen Unterrichtsausfall hielt das Gesundheitsamt jedoch nicht für nötig.
Angesichts der Schulschließungen hat der Deutsche Realschullehrerverband (VDR) ein Maßnahmenpaket zum Schutz von Schülern und Lehrern gefordert. «Wir dürfen keine Zeit verlieren und keine unnötigen Risiken eingehen», sagte der VDR-Bundesvorsitzende Jürgen Böhm am Donnerstag in München. Konkret dringt der Verband auf «konsequente Umsetzung und Kontrolle der notwendigen Hygienemaßnahmen an den Schulen» sowie klare Entscheidungen der Behörden über Schulschließungen. Der Unterricht solle dann notfalls «durch Nutzung digitaler Portale und digitaler Aufgabenpools» sichergestellt werden – ebenso wie Vorbereitung der Schüler auf die bevorstehenden zentralen Prüfungen der Klasse 10 sowie aufs Abitur.
Darüber hinaus forder Böhm von den Bundesländern, ein Finanzpaket bereitszustellen, aus dem bereits entstandene und nicht stornierbare Kosten für ausgefallene Schulfahrten und Schulveranstaltungen gedeckt werden könnten.
Wie sollen die Kinder betreut werden?
In Italien hat die Entscheidung der Regierung kontroverse Reaktionen hervorgerufen. Millionen Bürger stehen vor der Frage, wie sie ihre Kinder betreuen sollen. Auch Kindergärten sind geschlossen. «Die Politik hat Angst, Verantwortung zu übernehmen. Da lässt sie lieber das Land untergehen», sagte etwa die Selbstständige Julia Brunelli, die in Rom wohnt und nun mit zwei Kindern zuhause arbeitet. Die meisten Eltern mussten auf die Hilfe von Großeltern und Kindermädchen zurückgreifen – oder konnten nicht zur Arbeit gehen.
Weltweit sind mittlerweile über 95.000 Infektionen und 3280 Todesfälle bestätigt. Allein rund 3000 Menschen sind bislang auf dem chinesischen Festland gestorben, wo das Virus zuerst nachgewiesen wurde. Von insgesamt gut 80.000 Infizierten sind nach offiziellen Angaben inzwischen mehr als 52.000 geheilt. In Deutschland sind bis Donnerstagmorgen 349 Infektionen nachgewiesen wurden, in allen Bundesländern außer in Sachsen-Anhalt.
Angesichts massiver Folgen für die Wirtschaft durch das neuartige Coronavirus sieht die Industrie die Gefahr einer Rezession in Deutschland als erheblich gestiegen an. «Das wirtschaftliche Wachstum droht, fast zum Erliegen zu kommen», heißt es im neuen Quartalsbericht des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI). Auch die Bildungswirtschaft ist mittlerweile betroffen: Heute wurde die Bildungsmesse didacta auf unbestimmte Zeit verlegt (News4teachers berichtete). News4teachers / mit Material der dpa
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