DÜSSELDORF. Die Stimmung ist gereizt. Die Lehrerschaft steht in der Kritik, weil das Homeschooling in der Krise an den Nerven vieler Eltern zehrt. Die Lehrerinnen und Lehrer ihrerseits fühlen sich mit den Problemen, Präsenzunterricht unter kaum erfüllbaren Hygienevorgaben anbieten und ohne vernünftige Ausstattung Fernunterricht entwickeln zu müssen, alleingelassen – zurecht, sagt der Bildungsjournalist Andrej Priboschek. Damit das nächste Schuljahr klappt, müssen ihm zufolge alle Kräfte gebündelt werden. „Lehrerinnen und Lehrer benötigen Unterstützung – und keine zusätzliche Arbeit“, sagt der Herausgeber von News4teachers.
Lehrerinnen und Lehrer geben derzeit in der Öffentlichkeit kein gutes Bild ab…
Andrej Priboschek: Da läuft kommunikativ gerade viel aus dem Ruder. Das Netz ist voll von Beispielen, die zeigen, mit wie viel Engagement Lehrerinnen und Lehrer versucht haben, ihre Schülerinnen und Schüler in der Krise zu erreichen: von Grundschullehrerinnen, die den Stoff gleich für mehrere Jahrgänge häppchenweise in kurzen Erklärvideos präsentieren, über Sportlehrerinnen und Sportlehrer, die Fitness-Kurse für ihre Klassen und Kurse online geben, bis hin zu ganzen Kollegien, die Mutmach-Filme für ihre Kinder und Jugendlichen gemeinsam produziert haben. Und das allermeiste bekommt ja kein Außenstehender mit, weil es nicht öffentlich ausgebreitet wird. Was derzeit allerdings bei weitem überwiegt, das ist das Bild vom Lehrer, der wahllos ein paar unleserlich eingescannte Arbeitsblätter verschickt und sich ansonsten Corona-Ferien gönnt.
Woran liegt das?
Priboschek: Die Vorstellung hat natürlich mit der Realität wenig zu tun, wird aber durch Fernsehsendungen wie „Hart aber fair“ oder Medien wie „Bild“ genährt. Das funktioniert derzeit so gut, weil Lehrkräfte sich als Sündenböcke bestens eignen. Sie sind aus Sicht vieler Menschen in der Krise privilegiert, als öffentlich Bedienstete, die um ihren Arbeitsplatz nicht fürchten müssen, als vermeintlich starke politische Lobby, die ihre Interessen vehement vertritt – und sie sind diejenigen, die Eltern einiges zumuten müssen, weil im Homeschooling naturgemäß nun mal vor allem die Väter und Mütter gefordert sind, ihre Kinder zum Lernen zu bringen. Jetzt merken viele, was für eine Schwerstarbeit das sein kann. Und bei mehr als zehn Millionen Schülerinnen und Schülern in Deutschland findet sich immer jemand, der die Lehrkräfte seines Kindes vor laufender Kamera publikumswirksam anklagt.
Den derzeitigen Alltag von Lehrerinnen und Lehrern abzubilden, die Doppelbelastung von Präsenz- und Fernunterricht, die Arbeit in der Notbetreuung, die sich ständig ändernden Vorgaben aus der Politik, die grottenschlechte digitale Ausstattung der meisten Schulen – das lässt sich hingegen in einem Clip von einer Minute und 30 Sekunden nicht darstellen.
Welche Rolle spielt die Politik?
Priboschek: Der Datenschutzbeauftragte von Thüringen überzieht Lehrerinnen und Lehrer jetzt mit Ermittlungsverfahren, weil die in der Krise pragmatisch auf verfügbare digitale Angebote gesetzt haben, die zwar in jedem Unternehmen genutzt werden, aber für die Schule womöglich nicht alle Kriterien des Datenschutzes erfüllen. Grotesk. Und aus der Politik? Kommt praktisch nichts. Kein einziger Kultusminister hat erklärt, er werde mögliche Geldstrafen für seine Lehrerinnen und Lehrer übernehmen, weil die nur das getan haben, was in der Not angezeigt war.
Das Beispiel illustriert, wie die meisten Kultusminister ihre Lehrkräfte im Regen stehen lassen. Die Politik lässt die Schulen verkommen – der Sanierungsstau in Deutschland beträgt aktuell 44 Milliarden Euro, und da sind die Kosten für die erforderliche digitale Ausstattung noch gar nicht dabei –, sie gibt den Lehrerinnen und Lehrern keine praktikablen Lösungen an die Hand, schlimmer noch: sie schickt freitags per Schulmail, was mal eben bis Montag umgesetzt zu sein hat, und wenn Eltern und Medien schimpfen, weil etwas nicht klappt, dann taucht sie ab.
Warum war nicht ein einziges der immerhin 16 Kultusministerien plus ein Bundesbildungsministerium mit insgesamt mehreren Tausend Beschäftigten in der Lage, zu Beginn der Schulschließungen eine Positivliste mit DSGVO-kompatiblen Kommunikationskanälen und Lehrplan-angepassten digitalen Lernangeboten zu erstellen? Eine solche Liste hätte man in einer Woche zusammenbringen und an alle Schulen in Deutschland schicken können, damit die auf die Schnelle vernünftigen Fernunterricht hinbekommen. Stattdessen ließ man die Lehrerinnen und Lehrer allein.
Was erwarten Sie für das nächste Schuljahr?
Priboschek: Nichts Gutes. Mehrere Bundesländer haben angekündigt, ihre selbst entwickelten Lernplattformen früher an den Start bringen zu wollen, damit echter Fernunterricht im kommenden Schuljahr stattfinden kann. Nimmt man die bisherigen Auftritte landeseigener Lernplattformen zum Maßstab, dann droht ein Desaster.
Das ist nicht nachzuvollziehen: Es gibt auf dem Markt zahlreiche gute Angebote für den digitalen Unterricht – aber statt die zu nutzen und vielleicht für den eigenen Bedarf anzupassen, auch gerne auf Datenschutz hin zu prüfen, versucht sich jedes Bundesland und neuerdings auch das Bundesbildungsministerium als Software-Entwickler und scheitert daran grandios, bislang jedenfalls. Da werden Millionen von Euro versenkt und das Ergebnis ist dann, wenn es nach jahrelanger Frickelei endlich an die Schulen kommt, schon wieder veraltet. Das ist so, als würde die Polizei neue Autos benötigen und dann damit anfangen, sich selbst ein Modell zu entwickeln. Bis das fahrbereit ist, müssen Verbrecher halt zu Fuß oder mit dem Fahrrad über die Autobahn verfolgt werden. Absurd.
Was ist aus Ihrer Sicht zu tun?
Priboschek: Die drängendste Aufgabe besteht zunächst mal darin, jetzt schnell eine saubere und transparente Konzeption für das kommende Schuljahr zu entwickeln – und die dann auch öffentlich zu machen. Darin muss für Eltern und Lehrerschaft gleichermaßen nachvollziehbar und verständlich werden, einerseits, was Schule in der Krise zu leisten hat, andererseits, wo die Grenzen des Machbaren liegen. Dafür müssen aber dann auch die Kräfte gebündelt werden. Das Schuljahr wird ohne flankierende digitale Unterrichtsangebote nicht auskommen.
Hier wäre auch mal die Bildungs- und Digitalwirtschaft gefordert, klar und deutlich zu kommunizieren, wie und womit sie den Lehrkräften helfen kann, diesen digitalen Unterricht zu gestalten. Denn auch daran hapert es. Viel zu häufig wird am Bedarf der Lehrerinnen und Lehrer vorbei kommuniziert – in einer Sprache, die viele Pädagoginnen und Pädagogen kaum verstehen. Der praktische Nutzwert für den alltäglichen Unterricht, den ein digitales Lehrmittel bietet, wird dabei oft nicht deutlich.
Überspitzt gesagt: Schulen benötigen jetzt kein digitales Vogelhäuschen, das am Ende eines normalen Schuljahres im Rahmen eines Projektes sicher toll zu basteln gewesen wäre, sie brauchen schnell nutzbare, leicht zugängliche, zuverlässige Technik, die ihnen keinen Ärger mit dem Datenschutz beschert, und digitale Materialien, die wesentliche Lehrplan-Inhalte auch zu Hause auf den Punkt bringen. Sie benötigen Unterstützung – und keine zusätzliche Arbeit. News4teachers
Der Journalist und Sozialwissenschaftler Andrej Priboschek beschäftigt sich seit 25 Jahren professionell mit dem Thema Bildung. Er ist Gründer und Leiter der Agentur für Bildungsjournalismus – eine auf den Bildungsbereich spezialisierte Kommunikationsagentur, die für renommierte Verlage sowie in eigener Verantwortung Medien im Bereich Bildung produziert und für ausgewählte Kunden Content Marketing, PR und Öffentlichkeitsarbeit betreibt. Andrej Priboschek leitete sieben Jahre lang die Öffentlichkeitsarbeit des Schulministeriums von Nordrhein-Westfalen.
In eigener verlegerischer Verantwortung bringt die Agentur für Bildungsjournalismus tagesaktuell News4teachers heraus, die reichweitenstärkste Nachrichtenseite zur Bildung im deutschsprachigen Raum mit (nach Google Analytics) in den vergangenen drei Monaten jeweils mehr als 1.000.000 Leserinnen und Lesern monatlich und einer starken Präsenz in den Sozialen Medien und auf Google. Die Redaktion von News4teachers besteht aus Lehrern und qualifizierten Journalisten. Neben News4teachers produziert die Agentur für Bildungsjournalismus die Zeitschriften „Schulmanager“ und „Kitaleitung“ (Wolters Kluwer) sowie „Die Grundschule“ (Westermann Verlag). Die Agentur für Bildungsjournalismus ist Mitglied im didacta-Verband der Bildungswirtschaft.
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