DÜSSELDORF. Die meisten Bundesländer pochen trotz der Corona-Pandemie auf die Schulpflicht – und bringen damit vor allem Familien mit Angehörigen aus Risikogruppen in eine schwierige Lage. Eine Mutter von zwei Schülern, die einen Herzschrittmacher trägt, will das Land Nordrhein-Westfalen deshalb jetzt verklagen. Darf der Staat Kinder in die Schule zwingen, wenn er dort den Gesundheitsschutz nicht gewährleisten kann? Ein Gericht hat diese Frage schon einmal verneint.
In einem Anflug bemerkenswerter Offenheit ließ die nordrhein-westfälische Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) unlängst in einem Radio-Interview die Hosen herunter. „Wir können Menschen nicht davor schützen, an Covid-19 zu erkranken. Vielleicht muss man das auch nochmal sagen: Es wird immer Erkrankungen geben“, erklärte sie mit Blick auf die Schulen. „Wir können nur alles dafür tun, dass diese Erkrankungen so glimpflich laufen wie es irgend geht. Dafür haben wir Vorsorge getroffen, dass unsere Gesundheitsämter beziehungsweise unsere Krankenhäuser darauf vorbereitet sind, dass genügend Intensivbetten zur Verfügung stehen, dass genügend Beatmungsgeräte zur Verfügung stehen. Aber wir können nicht alle Menschen schützen.“
Kultusministerien sind auch für den Gesundheitsschutz in der Schule veranwortlich
Beatmungsgeräte als Präventionsmaßnahme? Britta Müller (Name geändert) kann über die Aussage einer Schulministerin, die nicht nur für den Unterricht, sondern auch für den Gesundheitsschutz von 200.000 Lehrern und 2,1 Millionen Schülern verantwortlich ist, nur bitter lachen.
Die Mutter von zwei schulpflichtigen Kindern aus Nordrhein-Westfalen gehört einer Corona-Risikogruppe an. „Seit Jahren bin ich Patientin mit Herzinsuffizienz (Herzschrittmacher), verursacht durch einen unerkannten und schwerverlaufenden Infekt. Ich habe zuvor normal gelebt, also viel Sport getrieben (3x die Woche Ausdauertraining), bin Nichtraucherin, trinke keinen Alkohol“, so berichtet sie. Ihre Perspektive, sollte sie sich mit dem Coronavirus infizieren: „hohe Wahrscheinlichkeit eines schweren Verlaufs von Covid-19 (dies belegen Daten und Vergleiche mit bereits Erkrankten mit gleicher Vorbelastung.) Dadurch das Risiko, zum Pflegefall zu werden.“
Keine Freistellung von der Pflicht zum Schulbesuch
Für ihre Kinder beginnt am Mittwoch die Schule. Eine Freistellung vom Schulbesuch gibt es für sie nicht. „Grundsätzlich sind Schülerinnen und Schüler verpflichtet, am Präsenzunterricht teilzunehmen. Es gelten die allgemeinen Bestimmungen zur Schul- und Teilnahmepflicht“, so heißt es auf der Seite des NRW-Schulministeriums.
Für Kinder mit Vorerkrankungen reicht formal eine Mitteilung an die Schule, dann werden sie freigestellt. Anders sieht es bei Kindern mit vorerkrankten Angehörigen aus. „Sofern eine Schülerin oder ein Schüler mit einem Angehörigen – insbesondere Eltern, Großeltern oder Geschwister – in häuslicher Gemeinschaft lebt und bei diesem Angehörigen eine relevante Erkrankung, bei der eine Infektion mit SARS-Cov-2 ein besonders hohes gesundheitliches Risiko darstellt, besteht, sind vorrangig Maßnahmen der Infektionsprävention innerhalb der häuslichen Gemeinschaft zum Schutz dieser Angehörigen zu treffen.“ Im Klartext: Betroffene sollen sich selbst dann halt zu Hause isolieren.
Weiter heißt es: „Die Nichtteilnahme von Schülerinnen und Schülern am Präsenzunterricht kann zum Schutz ihrer Angehörigen nur in eng begrenzten Ausnahmefällen und nur vorübergehend in Betracht kommen. Dies setzt voraus, dass ein ärztliches Attest des betreffenden Angehörigen vorgelegt wird, aus dem sich die Corona-relevante Vorerkrankung ergibt. Eine Entbindung von der Teilnahme am Präsenzunterricht kommt vor allem dann in Betracht, wenn sich die oder der Angehörige aufgrund des individuellen Verlaufs ihrer oder seiner Vorerkrankung vorübergehend in einem Zustand erhöhter Vulnerabilität befindet.“ Britta Müllers Situation ist aber chronisch – sie fällt deshalb durch das Raster. „Ich werde durch die Schulpflicht in eine lebensgefährliche Situation gebracht“, sagt sie.
In Baden-Württemberg wurde die Schulbesuchspflicht ausgesetzt
Würde die Familie nicht in Nordrhein-Westfalen leben, sondern in Baden-Württemberg, dann hätte sie dieses Problem nicht. Baden-Württembergs Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) hat entschieden, betroffenen Eltern in der Pandemie pragmatisch zu begegnen. Eltern, die nicht wollen, dass ihr Kind am Präsenzunterricht teilnimmt, können dies der Schule formlos melden. Dann müssen die Kinder aus der Ferne mitlernen. Eine Attestpflicht für Schüler besteht nicht. Eisenmann weist den Vorwurf, damit die Schulpflicht abgeschafft zu haben, von sich. Nicht die Schulpflicht, sondern nur die Präsenzpflicht habe man aufgehoben. Eine Attestpflicht würde nicht helfen, um Eltern zu schützen, die zur Risikogruppen gehörten, sagt Eisenmann. Die bisherigen Erfahrungen seien gut. Vor den Ferien hätten nur sehr wenige Schüler in den Schulen gefehlt.
Darf der Staat Kinder in die Schule zwingen, wenn er dort den Gesundheitsschutz nicht gewährleisten kann? Das Verwaltungsgericht Leipzig hat die Frage im Mai schon einmal verneint. Die „getroffene Regelung, nach der die Einhaltung eines Mindestabstands von eineinhalb Metern bei Schülern der Primarstufe der Grund- und Förderschulen während des Unterrichts im Klassenraum nicht erforderlich ist, verstößt gegen die aus Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG folgende Schutzpflicht des Staates i. V. m. dem Gleichheitssatz gem. Art. 3 Abs. 1 GG und verletzt den Antragsteller in seinem Recht auf körperliche Unversehrtheit gem. Art. 2 Abs. 1 GG und auf Gleichbehandlung gem. Art. 3 Abs. 1 GG“, so heißt es in dem Urteil, das die Eltern von zwei Grundschülern erwirkt hatten.
Warum gilt außerhalb der Schule die Abstandsregel – und innerhalb nicht?
Die Begründung des Gerichts: „Es war im Rahmen des Verfahrens weder darüber zu befinden, ob die Einhaltung eines Mindestabstands zwingender Bestandteil eines jeden Schutzkonzeptes zu sein hat, noch darüber, ob ein Schutzkonzept, das einen Mindestabstand enthält, als grundsätzlich vorzugswürdig zu erachten ist. Dies zu beurteilen ist Aufgabe des Antragsgegners (also des Freistaats Sachsen, d. Red). Zu beurteilen war vielmehr, warum der Antragsgegner bei nahezu sämtlichen Lebensbereichen die Einhaltung eines Mindestabstands zum notwendigen und wesentlichen Bestandteil seines jeweiligen Schutzkonzepts gemacht und warum er hiervon bei der Wiedereröffnung von Schulen betreffend der Primarstufe der Grund- und Förderschulen abgesehen hat. Für diese unterschiedliche Handhabung hätte es eines sachlichen Grundes bedurft und ein solcher wurde weder vorgetragen noch war dieser sonst für das Gericht ersichtlich.“ Sachsens Staatsregierung nahm das Urteil seinerzeit zum Anlass, die Schulbesuchspflicht auszusetzen – für Grundschüler jedenfalls.
Britta Müller erwägt jetzt, gegen das Land NRW zu klagen. „Es geht darum, in einer Ausnahmesituation gerechte Regelungen zu schaffen“, sagt sie. Diese sollen mit Blick auf die Schulen in der Pandemie jeder Familie individuell ermöglichen, sich zu schützen. „Wenn ich weiß, dass ich bei dem Überfahren einer roten Ampel mich und andere gefährde, werde ich dies selbstverständlich vermeiden. Das Maß der Selbstgefährdung möchte ich im Rahmen des Schulbesuchs ebenfalls selbst bestimmen und nicht über die Schulpflicht aufgedrängt bekommen“, betont sie. „Das ist, als würde ich vom Staat dazu gezwungen, bei Rot über die Ampel zu fahren.“ News4teachers
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