BERLIN. Den Wintereinbruch in dieser Woche haben Millionen Schüler und Lehrer zu spüren bekommen wie nie. Lüften ist oftmals der einzige Corona-Schutz im Klassenraum. Die Folge: Auch bei klirrender Kälte muss gelernt werden. Ein Grundschulleiter hat nachgemessen: Auf bis zu 2,4 Grad Celsius sanken die Temperaturen im Klassenraum. Ist das noch zumutbar? Pädagogen schlagen Alarm.
„Das richtige Lüften ist eine wichtige und wirkungsvolle Maßnahme im Gesamtpaket der Hygienemaßnahmen, um die potentielle Viruslast in der Lernumgebung zu senken und eine Ausbreitung des Corona-Virus einzudämmen“, so meint die KMK-Präsidentin und rheinland-pfälzische Bildungsministerin Stefanie Hubig (SPD). „Eltern sorgen sich vielleicht, dass es zu kalt in den Räumen werden könnte. Beim richtigen Lüften, so die Experten, kühlt sich die Raumtemperatur allerdings nur um zwei bis drei Grad Celsius ab.“ Die „Experten“, auf die sich Hubig bezieht – sie selbst bekräftigte in dieser Woche noch einmal: Stoßlüften in Schulen sei auch bei frostigen Temperaturen kein Problem –, sind Ingenieure des Bundesumweltamts.
Dieser Beitrag wurde mit Unterstützung der Leserinnen und Leser von News4teachers realisiert.
Mehr Informationen dazu – gibt es hier.
Die schulfernen Experten haben im Auftrag der KMK ein „Lüftungskonzept“ für die Schulen erarbeitet. In der kalten Jahreszeit soll demnach während des Unterrichts alle 20 Minuten mit weit geöffneten Fenstern für 3 bis 5 Minuten gelüftet werden – sogenanntes Stoßlüften. Zudem solle während der gesamten Pausen gelüftet werden. Einen anderen Schutz vor Infektionen vor dem Coronavirus haben viele Schüler und Lehrer nicht: Die Abstandsregel im Klassenraum wurde von den Kultusministern verworfen; die Maskenpflicht im Unterricht gilt in den meisten Bundesländern, wenn überhaupt, nur für ältere Schüler.
“Der Alarm des CO2-Messgeräts geht in weniger als zehn Minuten nach dem letzten Lüften wieder los”
„Mit dem Lüften hat es bisher aufgrund des milden Herbstes gut funktioniert“, sagt Dr. Alexander Fladerer, Vorsitzender des GEW-Bezirks Köln und Chemie- und Physiklehrer an einem Gymnasium, gegenüber t-online.de. Aber: „Da es in der Nacht von Sonntag auf Montag zum ersten Mal Nachtfrost in Köln gegeben hat, war es am Montag sehr kalt im Klassenraum – zwölf Grad zeigte das Thermometer an. Vor einem Jahr hätte man bei so einer Temperatur die Schule geschlossen, weil das keine akzeptablen Lern- und Arbeitsbedingungen sind. Heute sitzen die Schüler den ganzen Tag mit Jacke, teilweise auch mit Handschuhen und Schals da. Der Alarm des CO2-Messgeräts geht in Klassen mit 30 Schülerinnen und Schülern schon in weniger als zehn Minuten nach dem letzten Lüften wieder los, sodass fast ständig gelüftet werden muss. Wie das werden soll, wenn es noch kälter wird, weiß ich nicht. Und Ideen vom Ministerium oder den Schulträgern dazu gibt es auch keine.“
Obwohl das Problem der Ansteckungen mit dem Coronavirus durch Aerosole bereits seit spätestens Mai bekannt ist, haben sich die Kultusminister mit dem Thema Lüften erst zum kalendarischen Herbstanfang beschäftigt, mit einer Expertenanhörung am 24. September. Erkenntnisse, nach denen mobile Luftfilter die gefährlichen Schwebeteilchen in Klassenräumen größtenteils beseitigen können, wurden erst ignoriert und dann nur zögerlich von Landesregierungen aufgenommen. Immerhin rund die Hälfte der Bundesländer hat mittlerweile Förderprogramme für solche Geräte aufgelegt – zu spät (und zu knapp bemessen) allerdings, um die Schulen in der Fläche damit ausstatten zu können.
Schulleiter: „Ich persönlich werde die Verantwortung für die Gesundheit der Kinder in diesem Fall ablehnen“
Die Folgen bekommen Millionen von Schülern und Lehrern jetzt zu spüren. Der Leiter einer Grundschule im westfälischen Vörden machte nun, so berichtet das „Westfalen-Blatt“, im Rat seiner Stadt mit einem Lüftungsprotokoll anschaulich, wie wenig praktikabel das „Lüftungskonzept“ der KMK derzeit ist. Demnach wurden die Temperaturen am 25. und 30. November jeweils von 8.15 bis 11.45 Uhr im Raum EG05 (Außenseite nach Süden, innen grenzt die Aula an) gemessen. „Das Thermometer lag dabei auf einem Tisch im Klassenraum genau mittig zwischen Fensterfront und der gegenüberliegenden Innenwand. Für die Tests wurde außerdem die automatische Heizsperre bei geöffnetem Fenster aufgehoben – es wurde also dauerhaft auf 23 Grad geheizt“, so berichtete der Schulleiter.
Am ersten Testtag mit einer morgendlichen Außentemperatur von sechs Grad habe der Höchstwert nach einer Lüftung um 11.20 Uhr bei 14,6 Grad gelegen, der niedrigste Wert nach dem Öffnen der Fenster sei um 10.55 Uhr mit 11,7 Grad erreicht worden.
Noch deutlich kälter sei es am zweiten Testtag geworden, der um 8 Uhr bei minus vier Grad Außentemperatur begann. Hier kühlte sich der Raum zu Schulbeginn innerhalb von fünf Minuten von 21,5 auf 4,9 Grad herunter.
Am wärmsten blieb es laut Bericht nach einer fünfminütigen Lüftung um 11.45 Uhr mit 8,3 Grad, der kälteste Wert wurde nach Ende der großen Pause erreicht: Die Schüler begannen die Unterrichtsstunde um 10.25 Uhr bei einer Raumtemperatur von nur noch 2,4 Grad. „Wir haben uns sowohl bei den Tests auch als im Schulalltag genau an die Vorgaben bezüglich der Lüftungsintervalle und -zeiten gehalten“, erklärte der Schulleiter und betonte: „Ich persönlich werde die Verantwortung für die Gesundheit der Kinder in diesem Fall ablehnen.“
Scheeres: „Es ist mir vollkommen klar, dass das eine große zusätzliche Belastung für Schüler und Lehrer ist“
Berlins Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) verteidigte in dieser Woche das regelmäßige Lüften in den Schulen – auch bei Kälte und Temperaturen unter null Grad, wie die „Berliner Zeitung“ berichtet. „Was ist die Alternative? Wir wollen die Kinder vor dem Virus schützen“, sagte Scheeres. „Es ist mir vollkommen klar, dass das eine große zusätzliche Belastung für alle Beteiligten ist“, so die Politikerin. „Wir haben darauf aufmerksam gemacht, dass wärmere Kleidung getragen werden soll. Und gerade in den Grundschulen handeln unsere Pädagogen sehr umsichtig, setzen auch Kinder um, die vielleicht anfälliger sind.“
Aus ihrer Sicht bleibt der Unterricht trotz der anhaltenden Corona-Pandemie erste Wahl. „Es gibt einen klaren Konsens im Berliner Senat, aber auch unter allen Bildungsministern der Länder: So lange wie möglich wollen wir Präsenzunterricht und die Schulen offenhalten.“ News4teachers
Eine Lehrerin hat die Temperaturen im Klassenraum dokumentiert – und auf der Facebook-Seite von News4teachers veröffentlicht.
Sie schreibt dazu: “So sah gestern eine Doppelstunde nach Lüftungskonzept der Schulbehörde aus. An Unterricht ist während und nach der Lüftung nicht zu denken, weil es einfach zu kalt ist und alle sich dick anziehen müssen. Der eisige, norddeutsche Wind fegte sämtliche Blätter vom Tisch. Die Heizung läuft auch Hochtouren. Was das für die Umwelt und den Klimawandel bedeutet…”
Und sie betont: “Laut Arbeitsschutzgesetz muss die Raumtemperatur bei überwiegend sitzender Tätigkeit 20 Grad betragen. Tja! Arbeitsschutz scheint in den Schulen nicht zu gelten, denn auch alle anderen Schutzmaßnahmen nach ‘Sars-Cov-2 Schutzstandard Schule’ der DGUV gelten ja nicht.” Über den fehlenden Arbeitsschutz in der Schule hat auch News4teachers schon berichtet – hier nachzulesen.
