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Monatelang haben Kultusminister arme Schüler zur Begründung für Präsenzunterricht benutzt – jetzt sind sie vergessen

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BERLIN. Kaum ein Statement eines Kultusministers kam in den vergangenen Monaten ohne Verweis auf besonders förderbedürftige Schülerinnen und Schüler aus. Kinder und Jugendliche aus sogenannten „bildungsfernen Familien“ mussten in dieser Pandemie immer wieder als Begründung dafür herhalten, dass am Präsenzunterricht festhalten wurde, obwohl die Infektionszahlen in die Höhe schossen. Nun ist die Situation so, dass die Corona-Seuche keine weit offenen Schulen mehr erlaubt. Und was haben die Kultusminister vorbereitet, um diese  Kinder und Jugendlichen im Fall der Fälle so weit wie möglich zu stützen? Offenbar: Nichts. Auch der Bundesbildungsministerin fällt das jetzt auf.

Schülerinnen und Schüler aus sozial schwachen Familien bekommen häufig Probleme in der Schule (Symbolfoto). Foto: Shutterstock

„Viele Schülerinnen und Schüler aus bildungsfernen Familien werden durch den Distanzunterricht in ihren Lernprozessen benachteiligt“, so heißt es in einem Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 20. November (mit dem seinerzeit die Ablehnung der von Bundeskanzlerin Angela Merkel, CDU, gewünschten Schulschließungen begründet wurde). Nordrhein-Westfalens Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) kürte den Präsenzunterricht zur „höchsten Form der Bildungsgerechtigkeit“.

“Wir haben dramatische Berichte über Zunahme von Fettleibigkeit und über Suchterkrankungen”

Bremens Bildungssenatorin Claudia Bogedan (SPD) malte gar den Teufel an die Wand: „Wir haben dramatische Berichte über die Zunahme von Depression bei Kindern, wir haben dramatische Berichte über Zunahme von Fettleibigkeit, wir haben dramatische Berichte über Suchterkrankungen und wir haben auch leichte Tendenzen, was Gewalt gegen Kinder betrifft. Wir müssen auch dafür Sorge tragen, dass Kindern grundsätzlich ein gutes Aufwachsen ermöglicht wird. Und deshalb, glaube ich, ist es wichtig, dass wir ihnen den Zugang und die Teilhabe zu Bildung in Kitas und Schulen ermöglichen.“ Damit begründete sie, dass Bremen lediglich die Schulbesuchspflicht ausgesetzt hat, den Präsenzunterricht aber bislang aufrechterhält.

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Bund und Länder hatten sich am Dienstag darauf verständigt, den zunächst bis Ende Januar befristeten Corona-Lockdown bis Mitte Februar zu verlängern. Hauptgrund ist die Sorge über neue, ansteckendere Virusvarianten. Angesichts der monatelang so eifrig öffentlich gemachten Sorge um Schülerinnen und Schüler aus bildungsfernen Familien sollte man nun annehmen, dass die Kultusminister besondere Pläne entwickelt haben, wie diese Klientel im Fall notwendiger Schulschließungen durch besondere Angebote aufgefangen werden kann. Solche Pläne gibt es allerdings nicht, zumindest sind sie niemandem bekannt. Der Chef des Instituts der deutschen Wirtschaft, Michael Hüther, warnt deshalb bereits vor einem Bildungs-Desaster. „Deutschland hängt die Kinder aus bildungsfernen Haushalten ab, der wochenlange Distanzunterricht verschärft die sozialen Gegensätze weiter“, sagte er der „Rheinischen Post“.

„Ich habe den Ländern angeboten, dass wir solche Programme in den Ferien wieder auflegen können“

Das ist nun auch Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) aufgefallen. Sie fordert aktuell zusätzliche Angebote für benachteiligte Schüler in der Corona-Krise. „Ich habe den Ländern angeboten, dass wir solche Programme in den Ferien wieder auflegen können“, sagte Karliczek dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Sie verwies darauf, dass einige Bundesländer nach dem vergangenen Schuljahr Empfehlungen in den Zeugnissen gegeben hätten, an sogenannten Summer Schools teilzunehmen. Dabei habe der Bund im Bereich der Betreuung das eine oder andere Land unterstützt, sagte die Bundesbildungsministerin. Ihr gehe es darum, „dass eben ein gutes Angebot in den Ferien gemacht werden kann“.

Margit Stumpp, bildungspolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, hält das für viel zu wenig. „Ministerin Karliczek braucht zwar fast ein Jahr, aber dann bemerkt sie doch, dass die Schulschließungen zu Verschärfung der leider ohnehin vorhandenen sozialen Verwerfungen führen. Doch es darf jetzt nicht bei Lippenbekenntnissen und symbolischen Aktionen bleiben. Bund, Länder und Kommunen müssen schleunigst dafür sorgen, dass das Recht auf Bildung und die Chancengerechtigkeit in der Pandemie nicht auf der Strecke bleiben“, sagt sie. Nötig sei ein „ein ambitioniertes Förderprogramm für Schulen in benachteiligten Quartieren und Regionen, damit diejenigen gezielt unterstützt werden, die die schlechtesten Startchancen haben“. Daneben benötige jede Schule eine Strategie und Unterstützung, wie die Lernrückstände kurz- und mittelfristig auszugleichen sind. Stumpp: „Es braucht also flächendeckende Angebote und nicht nur punktuelle Summer Schools.“

Lehrerverband: Lernschwachen Kindern und Jugendlichen anbieten, das Schuljahr wegen der Corona-Pandemie freiwillig zu wiederholen

Was kann Kindern und Jugendlichen helfen, die durch Lockdown und Fernunterricht immer stärker den Anschluss in der Schule verlieren? Auch der Deutsche Lehrerverband beteiligt sich an der Diskussion – und fordert pragmatisch, lernschwachen Kindern und Jugendlichen anzubieten, das Schuljahr wegen der Corona-Pandemie freiwillig zu wiederholen, ohne dass sie deshalb als „Sitzenbleiber“ gelten. „Es gibt eine Schülergruppe, die braucht ein Jahr zusätzlich“, sagte Präsident Heinz-Peter Meidinger dem „Tagesspiegel“. Spätestens bei den Abschlussprüfungen oder im Abitur würden diese Jugendlichen sonst scheitern.

„Der Schüler geht dann mit weniger Rüstzeug von der Schule – und hat im weiteren Leben schlechtere Chancen“, warnte Meidinger. In einem Wiederholungsjahr könnten Schüler gezielt Lernstoff nachholen und gefördert werden. Automatische Versetzungen, ein halbes Extra-Schuljahr oder ein genereller Verzicht auf Sitzenbleiben und Noten seien „nur ein Herumdoktern an Symptomen“. Das freiwillige Wiederholen eines Schuljahrs ist auch heute schon möglich. Mancherorts wird dies allerdings als Wiederholung wegen Nichtversetzung gewertet. Das bedeutet, dass ein Jugendlicher unter Umständen die Schule verlassen muss, wenn er eine Klasse freiwillig wiederholt und dann nicht versetzt wird. News4teachers / mit Material der dpa

Anstelle eines Kommentars zur Schulpolitik: Ein persönlicher Brief an die Ministerpräsidenten

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