PASSAU. Bloße Provokation oder Anstoß für eine wichtige Debatte? Fast die Hälfte aller Lehrerinnen und Lehrer in Deutschland sollte aus Sicht des Passauer Schulpädagogik-Professors Norbert Seibert einen anderen Job machen. «Über 40 Prozent der Lehrer in Deutschland sind eigentlich nicht geeignet», sagte er der «Passauer Neuen Presse». Seibert fordert eine praxisnähere Lehrerausbildung – und eine Vorauswahl der Kandidatinnen und Kandidaten vor Beginn des Studiums.
Die Pandemie wirkt sich nach Ansicht von Norbert Seibert, Professor für Schulpädagogik an der Universität Passau, negativ auf die Qualifizierung angehender Lehrkräfte aus. «Zum einen hatten wir jetzt drei Semester lang keine Präsenzveranstaltungen an der Uni. In der Zeit hat sich die Durchfallerquote bei Prüfungen fast verdoppelt», sagte er der Zeitung. Dazu komme: «Sozialverhalten kann man nicht bei Online-Zoom-Meetings lernen. Das fängt bei E-Mails an, die ich bekomme, und in denen oft nur noch steht: “Hallo, rufen Sie mich an. MfG” und endet damit, dass diese zukünftigen Lehrkräfte gar nicht wissen, wie man mit Schülern Kontakt aufnimmt.»
«Die am schlechtesten ausgebildeten Lehrkräfte werden im Moment auf die schwächsten Schüler losgelassen»
Das Lehramtsstudium helfe hier wenig – das gelte grundsätzlich: Angehende Lehrkräfte würden schlecht auf den Beruf vorbereitet, sagte Seibert. «Das muss geändert werden, denn nicht jeder kann Lehrer.» Dazu komme, dass oftmals nicht mal die ohnehin schon niedrigen pädagogischen Standards dabei erreicht würden. So verbeamte der Staat aufgrund des Lehrermangels Absolventen der Lehrämter Grund- und Mittelschule sicher – egal mit welchem Notendurchschnitt sie bestehen. Auch Quer- und Seiteneinsteiger würden als Lehrkräfte rekrutiert. «Kurzum: Der Begriff “Qualität” scheint ein Oxymoron zu sein, ein Begriff, der sich in allen Aspekten selbst widerspricht», sagte Seibert.
Das Fatale sei: «Die am schlechtesten ausgebildeten Lehrkräfte werden im Moment auf die schwächsten Schüler losgelassen, die aufgrund von Corona auch noch massive Wissenslücken aufweisen.»
Seiberts Kritik an der Auswahl und Qualifizierung von Lehrkräften ist nicht neu. «Das Lehramtsstudium bereitet die Lehrer sehr schlecht darauf vor, was sie faktisch sind: Pädagogen. Und dann kommt es natürlich im Beruf zur Überforderung», so erklärte er bereits vor zehn Jahren in der „Passauer Neuen Presse“. Die Studienordnung kranke an Praxismangel. «Wir haben keine faulen Lehrer, im Gegenteil, sie sind meist hoch engagiert. Sie müssen halt einfach etwas tun, was sie so nicht gelernt haben.“ Seibert fordert mehr Praxisbezug für die Lehramtsstudenten.
«Die Verfahren der Qualitätssicherung durch Prüfungsordnungen und Staatsexamina erzielen nicht die erwünschten Effekte»
«Ein Lehrer ist doch hauptsächlich Pädagoge. Diese Aussage hat in Bayern keinerlei Bedeutung. Wer in Bayern die Note Fünf in Pädagogik bekommt, besteht dennoch», beklagte Seibert. Er könne diese schlechte Note mit den Leistungen in den anderen Prüfungen locker ausgleichen. Von Grund auf müsse in der Lehrerbildung alles anders gemacht werden. «Die bisherigen Verfahren der Qualitätssicherung durch Prüfungsordnungen und Staatsexamina erzielen nicht die erwünschten Effekte.» Die Praktika müssten viel höher gewichtet werden. Die Eignung müsste verbindlich geprüft werden – und zwar bereits vor dem Studium.
Seibert hat 2006 an der Uni Passau das Programm «PArcours» ins Leben gerufen, bei dem angehende Lehramtsstudenten auf freiwilliger Basis überprüfen können, ob sie tatsächlich für den Beruf geeignet sind. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben vier praktische Übungen und zwei schriftliche Aufgaben zu bewältigen. Nach den acht Stunden Test würden die Studienanfänger schon sehr viel besser wissen, wie sie dran sind, ob sie neben Methoden und Sprachkompetenz auch die benötigte Portion Selbst- und Sozialkompetenz mitbringen. Mit Letzterer können sie Konfliktsituationen besser meistern.
Wer durchfällt und die Berufswahl daraufhin nochmal überdenkt, erspart sich laut Seibert womöglich einen fatalen Schritt. «Ungeeignete Lehrer brennen besonders leicht aus.»
Hier gibt es weitere Informationen zum „Parcours“-Programm der Uni Passau.