DÜSSELDORF. Können wir eine Bildungskatastrophe noch verhindern? Ja, sagt Klaus Zierer, viel Zeit bleibe allerdings nicht. Der Professor für Schulpädagogik an der Uni Augsburg gehört zu den renommiertesten Bildungsforschern Deutschlands. In seinem aktuellen Buch hat er sich unter anderem mit den Kollateralschäden der Pandemie auseinandergesetzt und konkrete Vorschläge erarbeitet, wie der drohende Bildungsnotstand doch noch abzuwenden sein könnte. Für News4teachers hat er im folgenden Beitrag seine Bestandsaufnahme zusammengefasst – und stellt fünf Forderungen an die Bildungspolitik.
News4teachers verlost fünf Bücher von Zierer (siehe unten, bis 30. September 2021).
Ein Jahr zum Vergessen – wie wir die Bildungskatastrophe nach Corona verhindern
„Ein Jahr zum Vergessen“ – ist das nicht zu alarmistisch? Der Titel meines Buches geht zurück auf einen Artikel in der Süddeutschen Zeitung, in dem ich erste Ergebnisse einer Meta-Analyse zu den Lernrückständen in Folge der Schulschließungen des ersten Lockdowns vorgestellt habe. Er stammt von Paul Munzinger, seines Zeichens Redakteur. Schnell machte der Titel die Runde, gerade wegen seiner Doppeldeutigkeit: Ein Jahr zum Vergessen, weil Kinder und Jugendliche, Eltern und auch Lehrpersonen das letzte Jahr gern hinter sich lassen würden und nicht mehr daran erinnert werden wollen. Zu schwer, zu herausfordernd, zu belastend waren viele Situationen. Und auch ein Jahr zum Vergessen im Hinblick auf die Bildung. Kinder und Jugendliche haben vieles vergessen. Lernrückstände sind deutlich erkennbar, körperliche Defizite lassen sich nicht vertuschen und auch die soziale Entwicklung hat Schaden genommen durch die Maßnahmen zur Eindämmung der Coronapandemie.
“Wir Menschen können vieles schaffen und vieles erreichen. Wenn…”
So treffend die Zuspitzung des Titels auch ist, ich möchte nicht auf der Ebene des Alarmismus und der Ohnmacht stehen bleiben. Vielmehr ist es mein Anliegen, nach vorne zu schauen. Als Schulpädagoge bin ich fest davon überzeugt: Wir Menschen können vieles schaffen und vieles erreichen. Wenn, ja wenn es uns gelingt, unsere Kräfte zu bündeln, unsere Urteilskraft auf Vernunft zu gründen und durch gemeinsame Dialoge zu schärfen sowie Tatendrang in Schaffenskraft zu überführen. Dann haben wir auch jetzt noch die Möglichkeit, eine drohende Bildungskatastrophe abzuwenden. Es bleibt zwar nicht mehr viel Zeit. Aber mit Entschlossenheit kann es uns allen gelingen. Zunächst ist aber ein Blick zurück notwendig, denn ohne eine ehrliche Diagnose kann kein Schritt nach vorne gelingen.
Homeschooling und Unterrichtsausfall haben teils verheerende Auswirkungen nicht nur auf den Bildungsstand, sondern auch auf die körperliche und emotionale Verfassung von Schülerinnen und Schülern. Zu diesem alarmierenden Befund kommt Klaus Zierer, Professor für Schulpädagogik an der Universität Augsburg und ehemaliger Grundschullehrer, nach Analyse der vorliegenden Daten aus vergleichbaren Ländern.
News4teachers verlost fünf Bücher – unter denjenigen Leserinnen und Lesern, die uns einen Kommentar oder einen Erfahrungsbericht zum Beitrag schicken. War das vergangene Schuljahr wirklich zum Vergessen für die Bildung? Die Kommentare möchten wir (ohne Namensnennung!) gebündelt in einem Artikel veröffentlichen: redaktion@news4teachers.de, Betreff: „Zierer“. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Die Aktion läuft bis zum 30. September 2021.
Klaus Zierer
Ein Jahr zum Vergessen
Wie wir die Bildungskatastrophe nach Corona verhindern
Softcover, gebunden mit Schutzumschlag, 128 Seiten
12.00 € (DE) / 12.40 € (AT) / 17.90 SFr (CH)
ISBN 978-3-451-07228-4 HERDER 2021
Als E-Book:
9.99 € (DE) / 9.99 € (AT) / 12.00 SFr (CH)
ISBN 978-3-451-82585-9 HERDER 2021
Die Corona-Pandemie hält die Welt in Atem. Die ergriffenen Maßnahmen wirken nicht immer wie erhofft und ziehen Kollateralschäden nach sich, die nicht unbeachtet bleiben dürfen. Denn bei aller Dringlichkeit, die Gesundheit der Menschen zu schützen, Gesundheit umfasst neben der körperlichen Unversehrtheit auch eine psychische und soziale Komponente und alle drei hängen voneinander ab. Gleiches gilt im übertragenen Sinn für Systeme, wie die Familie, die Wirtschaft oder die Schulen. Blickt man auf die zuletzt Genannten, so mehren sich die Hinweise, dass eine Bildungskatastrophe droht.
“Schule ist vom Bildungsort zum Lernort verkümmert”
Die in ihrer Anzahl stetig steigenden Studien zur Wirkung des ersten Lockdowns aus dem letzten Jahr belegen eindringlich, dass die Lernleistung von Kindern und Jugendlichen insgesamt zurückgegangen ist. Homeschooling hat weltweit nicht so funktioniert, wie man es anfänglich in einer Digitalisierungseuphorie erhofft hatte. Dies gilt flächendeckend, also sowohl für die leistungsstarken als auch für die leistungsschwachen Lernenden in den Kernfächern, wobei leistungsschwache Lernende stärker von Lernrückständen betroffen sind. Zudem zeigen sich die negativen Effekte über alle Schularten hinweg, besonders deutlich im Primarbereich. Bei den Nebenfächern, wie Kunst, Musik und Sport, sieht es insgesamt noch schlechter aus, denn sie wurden kurzer Hand aus den Stundenplänen gestrichen. Schule ist vom Bildungsort zum Lernort verkümmert und nicht einmal dieser klappt wie erhofft.
“Das Einzige, was viele in der Krise gelernt haben ist, Nichts zu tun.”
Gleichzeitig warnen Schulpsychologinnen und -psychologen davor, dass auch das Lernverhalten von Schülerinnen und Schülern Schaden genommen hat. Denn bedingt durch soziale Vereinsamung und schulische Zwangsabstinenz hat der Medienkonsum derart zugenommen, dass viele das Lernen verlernt haben. Überspitzt gesprochen: Das Einzige, was viele in der Krise gelernt haben ist, Nichts zu tun. Hält man sich vor Augen, dass Lernstrategien mit der wirksamste Faktor für Schulerfolg sind, dann ist es Zeit zu handeln. Immer mehr Lernende brauchen eine Beratung, um wieder zurück ins Lernen und manchmal sogar zurück ins Leben zu finden.
Beide Effekte schlagen sich besonders in bildungsfernen Milieus nieder: Kinder und Jugendliche aus Elternhäusern, die geringes Einkommen haben oder selbst einen niedrigeren Bildungsabschluss, sind die großen Verlierer. Zweifelsfrei ist gerade in Deutschland die Bildungsschere immer schon beachtlich, was nicht zuletzt mit der Vielfalt der kulturellen Prägung in den Elternhäusern zu tun hat. Aber die schulischen Maßnahmen, die zur Eindämmung der Corona-Pandemie ergriffen wurden, haben diese Situation bereits heute massiv verschärft und verschärfen sie noch weiter. Bildungsungerechtigkeit nimmt also zu.
Und schließlich hat all das Gesagte ökonomische Folgen. Denn der Zusammenhang zwischen Bildungsniveau einer Gesellschaft und Wirtschaftskraft eines Landes ist bekannt: In Ländern mit einem hohen Bildungsniveau wächst die Wirtschaft schneller als in Ländern mit einem niedrigen Bildungsniveau. Bildung ist also nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für die Ökonomie insgesamt entscheidend. Erste Schätzung gehen davon aus, dass die Schulschließungen und der damit verbundene Distanzunterricht aus dem letzten Jahr bereits massive Einschnitte zur Folge haben. Angesichts des anhaltenden Stotterbetriebs werden diese nicht nur verhärtet, sondern noch weiter ausgebaut.
Man kann es also drehen und wenden, wie man möchte: Die letzten Wochen und Monate haben dem Bildungssystem geschadet. Die getroffenen Maßnahmen haben im Vergleich zu den Jahren davor negative Effekte auf die Bildung. Somit besteht kein Zweifel: eine Bildungskatastrophe droht.
Was jetzt zu tun ist
Was also tun? Ein weiter so, kann es nicht sein. Weder die Digitalisierung ist der Heilsbringer in der Krise, noch das ständige Schließen von Schulen. Zu sehr greift beides in die pädagogische Grundeinsicht ein: Bildung ist ein sozialer Prozess. Der Mensch braucht den Menschen im Hier und Jetzt und er braucht ihn analog, weil er digital nicht abbildbar ist. Der wichtigste Grund für Lernende, in die Schule zu gehen, ist nicht die Schule, nicht das Fach und nicht die Lehrperson: es sind die Gleichaltrigen. Neuste neurologische Untersuchungen zeigen sogar, dass Aufmerksamkeit und Konzentration um ein Vielfaches höher sind, wenn sich Lernende gemeinsam im Klassenraum befinden anstatt zuhause vor dem Rechner sitzen. Aus pädagogischer Sicht kann es daher nur heißen: So schnell wie möglich die Schulen wieder öffnen und so viel Präsenz wie möglich. Alle weiteren Maßnahmen müssen in diese Richtung weisen. Da ohne Frage Hygienestandards wichtig und finanzielle Ressourcen begrenzt sind, ist einer Aufrüstung der Klassenzimmer mit Hygienemaßnahmen der Vorrang vor einer digitalen Aufrüstung der Kinderzimmer zu gewähren.
Vor diesem Hintergrund sind Maßnahmen zu ergreifen, die in den Bereichen der kognitiven, sozialen und körperlichen Entwicklung wirken: Ein verpflichtender Schullandheimaufenthalt für alle Klassen, die Stärkung von Kunst, Musik und Sport in der Schule sowie eine damit verbunden Lehrplanreform. Letztlich ist das die Chance in der Krise: Schule neu zu denken – bildungswirksamer, vielseitiger, gerechter und in diesem Sinn humaner.
Falsches Verständnis von Standardisierung und Fehlern
Damit könnte die pädagogische Klimakrise, die Ken Robinson dem Schulsystem attestiert, bewältigen. Als Gründe für diesen negativen Befund nennt er eine falsch verstandene Standardisierung, die die Individualität der Menschen verkennt. Zudem dominiert ein Verständnis von Fehlern, das nicht dem menschlichen Lernen entspricht. Diesem falschen Verständnis zufolge sind Fehler in der Schule immer etwas, was es zu vermeiden gilt. Aber richtig verstanden ist der Fehler der Motor des Lernens – ohne Fehler kein Lernen. Und schließlich kritisiert er eine daraus folgende Oberflächlichkeit, die im Kern den menschlichen Möglichkeiten nicht gerecht wird: Durch zu viel sinnloses Detailwissen verlieren Lernende die Lust am Lernen und damit auch die Freude an der Schule.
Wir brauchen folglich ein Klima des Vertrauens und Zutrauens, ein Klima der Geborgenheit und Freude, ein Klima, in dem der Mensch nicht nur aus einem Kopf besteht, sondern auch aus einem Leib und einer Seele, ein Klima, in dem die kognitive Leistung, so wichtig sie auch ist, nicht über allen anderen Dimensionen des Menschen steht. Wir brauchen ein Klima, in dem das soziale Miteinander wichtig ist, in dem der Mensch mit all seinen Möglichkeiten einen Platz bekommt, Gehör findet und mit allen zur Verfügung stehenden Kräften unterstützt wird.
“Eine Kultur der individuellen Förderung ist unerlässlich”
Was folgt aus dem Gesagten für die Schule als der wichtigsten gesellschaftlichen Institution für junge Menschen? Soll Schule nicht nur Lernort, sondern auch Bildungsraum werden und damit ein Ort der Freude, ist eine Kultur der individuellen Förderung unerlässlich. Individuelle Förderung ist dabei nicht etwas Besonderes oder eine Ausnahme oder ein Notprogramm, sondern es ist eine Selbstverständlichkeit des schulischen Lernens, sich immer wieder herauszufordern und weiterzuarbeiten. Wichtige Fragen sind: Wie werden Lernenden im Vorfeld getestet? Eine aussagekräftige Diagnose ist die Basis jeder Förderung. Hier könnten die landesweiten Vergleichsarbeiten helfen, um festzustellen, was wirklich gelernt worden ist und wo die Lücken sind. Welche Verfahren zur Förderung gibt es? Durchdachte Lernpfade wären das mindeste, liegen bis heute aber nicht vor. Welche Gruppenbildung wird angestrebt? Alle Lernenden gleich zu behandeln, schafft keine Bildungsgerechtigkeit. Wie werden Lehrpersonen darauf vorbereitet? Individuelle Förderung ist die pädagogische Königsklasse, so dass eine Professionalisierung in diesem Bereich erforderlich wäre. Und schließlich: Wie werden Eltern mitgenommen? Sie sind entscheidend für Schulerfolg, so dass über Elternarbeit nachzudenken wäre.
Sicherlich hätte das eine oder andere schon längst passieren können, ja müssen. Aber …
Hier geht es zu Teil zwei des Gastbeitrags.