Niedersachsen will mit einem Maßnahmenpaket Hunderte dringend benötigte neue Lehrerinnen und Lehrer anwerben. So wird die Zahl der zum neuen Schuljahr zu besetzenden Stellen um weitere 730 auf rund 2300 Vollzeiteinheiten angehoben. Damit sei das Land «erstmal vollumfänglich handlungsfähig», sagte Kultusminister Grant Hendrik Tonne (SPD) am Montag in Hannover. Insbesondere die nicht-gymnasialen Schulformen sollen in den Blick genommen werden.
Die Bewerber in der aktuellen Einstellungsrunde werden dabei mit einer Prämie von 150 bis 400 Euro monatlich angelockt, die zwei Jahre lang gezahlt werden soll. Die Höhe der Lehrerprämie ist abhängig von der Schulform und der Fächerkombination. Außerdem sollen deutlich mehr Quereinsteiger in den Unterricht eingebunden werden.
Das Land wies die Schulleitungen auch auf weitere Möglichkeiten hin, um zusätzliches Personal zu gewinnen. Dazu zählen die Einstellung von Studierenden und Pensionären, die Unterrichtserteilung auf freiwilliger Basis und das Hinausschieben des Ruhestands gegen Zahlung eines Zuschlags. Sowohl im Landtag als auch von Schulvertretern wurde das Paket jedoch kritisch aufgenommen.
“Wir warnen davor, Lehrpersonal ohne Masterabschluss oder Staatsexamen in den Schuldienst einzustellen”
Hintergrund ist, dass die Unterrichtsversorgung an Niedersachsens Schulen in diesem Schuljahr so niedrig ist wie zuletzt vor 19 Jahren. Gleichzeitig werden im kommenden Schuljahr rund 32.000 Schülerinnen und Schüler zusätzlich erwartet. Grund dafür seien die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs, nachgeholte Einschulungen sowie weiter steigende Geburtenzahlen, erklärte Kultusminister Tonne. Er räumte ein, dass die Zahl der Lehrkräfte im Land trotz eines Höchststands (83.000) langsamer gewachsen sei als die Bedarfe und Herausforderungen.
Der Koalitionspartner CDU wertete das Paket als Schritt in die richtige Richtung. Allerdings löse es «ein gewisses Befremden» aus, dass der Kultusminister erst kurz vor der Wahl auf den häufigen Unterrichtsausfall reagiere, sagte CDU-Bildungspolitiker Christian Fühner.
Der FDP-Abgeordnete Björn Försterling warf Tonne Aktionismus vor und prognostizierte, dass die Unterrichtsversorgung durch die Maßnahmen nicht deutlich besser werde. Zwar sei insbesondere die Beschleunigung des Quereinstiegs überfällig, allerdings werde beispielsweise der Vorbereitungsdienst durch eine Erhöhung der Unterrichtsverpflichtung für Referendare unattraktiver. Grünen-Fraktionschefin Julia Willie Hamburg sagte, bei dem Maßnahmenpaket handele es sich um «ein paar Pflaster, die die sich zuspitzende Problemlage an unseren Schulen leider nicht beheben werden».
Der Verband Niedersächsischer Lehrkräfte (VNL) geht ebenfalls davon aus, dass «der Lehrkräftemangel an vielen unserer Schulen auch im neuen Schuljahr ein großes Problem bleiben wird», wie der Vorsitzende Torsten Neumann sagte. Er verwies unter anderem darauf, dass es besonders im nicht-gymnasialen Bereich schwierig sei, die ausgeschriebenen Stellen auch tatsächlich zu besetzen.
Neumann kritisierte zudem die geplante Ausweitung des Quereinstiegs und mahnte an, die Einstellungsvoraussetzungen nicht aufzuweichen. «Wir warnen davor, Lehrpersonal ohne Masterabschluss oder Staatsexamen in den Schuldienst einzustellen, wenn auch zurzeit nur zeitlich begrenzt», sagte er. Die Bildungsgewerkschaft GEW rief dazu auf, die Einstellungszahlen dauerhaft zu erhöhen.
Nach Angaben des Kultusministeriums sind von rund 1630 Stellen, die bereits zu Beginn des Einstellungsverfahrens ausgegeben wurden, bisher knapp 80 Prozent besetzt. Seither wurden bereits mehrere Hundert weitere Stellen für das neue Schuljahr ausgeschrieben.
“100 Prozent Versorgung – das würde im Fußball bedeuten, dass Hansi Flick mit 11 Spielern zur WM fährt”
Die Unterrichtsversorgung war laut Kultusministerium zu Beginn des laufenden Schulhalbjahres bereits auf einen landesweiten schulformübergreifenden Durchschnittswert von 97,4 Prozent gefallen. (Schuljahr 2020/2021: 99,0 Prozent). Dagegen hat sich nun eine Elterninitiative formiert. «Das ist der schlechteste Wert seit 20 Jahren und ein Mahnmal für das Versagen der Schulpolitik in den letzten Jahren. Denn das heißt, dass selbst bei voller Besetzung und einem Krankenstand von 0 Prozent der Lehrkräfte noch nicht einmal der komplette Unterricht stattfinden kann», so schreiben die Initiatoren auf der Projekthomepage www.initiative-unterrichtsversorgung.de.
«Um die Dramatik dieser auf den ersten Blick nicht so dramatisch wirkenden Zahlen aufzuzeigen, hier eine kleine Analogie: 100 Prozent Versorgung – das würde im Fußball bedeuten, dass Hansi Flick mit 11 Spielern zur WM fährt. Dabei ist noch nicht einmal sichergestellt, dass er für jede Position den richtigen Spieler dabei hat. Wäre Herr Tonne Bundestrainer, würde er mit 10 Spielern nach Katar fahren und sich wundern, dass er bereits in der Vorrunde scheitert.» Die Initiative fordert eine Stellenreserve von mindestens zehn Prozent für die Schulen.
Das Thema könnte für Ministerpräsident Weil gefährlich werden. Schon einmal verlor ein sozialdemokratischer Ministerpräsident wegen hohen Unterrichtsausfalls sein Amt: Peer Steinbrück, der 2005 von dem ursprünglich als chancenlos geltenden Jürgen Rüttgers (CDU) mit dem Versprechen einer Unterrichtsgarantie besiegt worden war. News4teachers / mit Material der dpa
Lehrermangel: Verband warnt Kultusmininister „zu tricksen“ (meint: Klassen vergrößern)
