BERLIN. Immer mehr Grundschüler scheitern an Mindeststandards in Lesen, Schreiben und Rechnen – für den weiteren Bildungsweg und die berufliche Zukunft sind das schlechte Voraussetzungen. Schuld sind den Kultusministern zufolge vor allem die Schulschließungen in der Corona-Pandemie. Lehrerverbände sehen (auch) andere Gründe. Kein Wunder: Die Leistungen gehen bereits seit zehn Jahren zurück.
Grundschulkinder in Deutschland haben zunehmend Mathe- und Deutschprobleme und sind im Zehn-Jahres-Vergleich in ihren Kompetenzen deutlich zurückgefallen. Das zeigt eine am Freitag von der Kultusministerkonferenz (KMK) vorgestellte Studie des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB), die im Abstand von fünf Jahren den Stand bei Viertklässlern repräsentativ untersucht. Die KMK betonte in ihrer Stellungnahme, dass «die Schulschließungen und Unterrichtseinschränkungen in der Corona-Zeit» Schülerinnen und Schüler «erheblich zurückgeworfen» hätten, wie News4teachers berichtet.
Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger, urteilt hingegen, die Studie stelle der Bildungspolitik in Deutschland ein «miserables Zeugnis» aus. «Wenn, wie festgestellt, in den beiden zentralen Grundschulfächern Deutsch und Mathematik nur jeweils die Hälfte der Kinder die Regelstandards erreicht und ein Fünftel sogar die Mindeststandards verfehlt, kommt man nicht um die Feststellung herum, dass die Bildungspolitik ihre in den Bildungsstandards selbst formulierten Ziele in zunehmendem Maße haushoch verfehlt.»
“Wie soll das vor dem Hintergrund der bestehenden und sich weiter verstärkenden personellen Unterdeckung geleistet werden?“
Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) sieht hingegen in den sich seit Jahren stetig verschlechternden Rahmenbedingungen in den Schulen – insbesondere den Lehrkräftemangel – die Hauptursache für den Leistungsabfall. „Die wachsende Bildungsungerechtigkeit stellt für Lehrkräfte eine enorme Herausforderung dar. Sie zu bewältigen, erfordert ein Höchstmaß an individueller Förderung. Aber wie soll das vor dem Hintergrund der bestehenden und sich weiter verstärkenden personellen Unterdeckung geleistet werden?“, so fragt VBE-Bundesvorsitzender Udo Beckmann.
Er betont: „Wenn es der Politik nicht gelingt, tragfähige Konzepte für die Beseitigung des Lehrkräftemangels zu entwickeln, kann die derzeit herrschende Überlastung der im System befindlichen Lehrkräfte nicht aufgelöst werden. Die Politik muss Konzepte für die Gewinnung zusätzlicher Lehrkräfte liefern, ohne die Qualität der Lehrkräfteausbildung auszuhöhlen. Darüber hinaus braucht es eine umgehende und kurzfristige Entlastung der im System befindlichen Lehrkräfte, beispielweise durch den Einsatz multiprofessioneller Teams zur Unterstützung und Entlastung bei all den Aufgaben, für die sie nicht originär ausgebildet sind. Andernfalls wird die anhaltende Überlastung der im System befindlichen Lehrkräfte zu weiteren krankheitsbedingten Ausfällen führen und die ohnehin äußerst angespannte Personallage weiter verschärfen.“
In die gleiche Kerbe schlägt die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). „Wie laut müssen die Alarmglocken noch läuten, damit der Bildung in diesem Land endlich alleroberste Priorität eingeräumt wird?“, fragt Anja Bensinger-Stolze, Vorstandsmitglied Schule der GEW. „Der sozioökonomische Status der Familie spielt eine immer größere Rolle beim Kompetenzerwerb der Kinder. Schulerfolg und Lebensperspektiven sind eng mit dem Elternhaus verknüpft, seit PISA 2001 die Achillesferse des Bildungssystems in Deutschland. Statt der gesellschaftlich notwendigen Entkopplung verschärft sich die Situation aber offenbar noch. Dieser Trend ist seit 2016 festzustellen und trifft alle Kinder, aber ganz besonders Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungshintergrund.“
“Eine Offensive in der Lehrkräfteausbildung und eine verstärkte Qualifizierung der Quer- sowie Seiteneinsteiger ist längst überfällig“
Diese Entwicklung könne nicht mit dem eingeschränkten Unterricht während der Corona-Pandemie erklärt werden – wie es die Kultusministerkonferenz in ihrer Stellungnahme gestern getan hat. „Wir müssen von einem allgemeinen Trend sprechen. Dieser kann nur umgekehrt werden, wenn endlich konsequent auf den dramatischen Lehrkräftemangel reagiert wird. Eine Offensive in der Lehrkräfteausbildung und eine verstärkte Qualifizierung der Quer- sowie Seiteneinsteigerinnen und -einsteiger ist längst überfällig“, betont Bensinger-Stolze.
Der Philologenverband sieht ein Kernproblem in zu niedrigen Ansprüchen an die Grundschulen. Dass sich die Länder zum Beispiel für die neuen Bildungsstandards Deutsch für die Grundschule gerade einmal auf eine „lesbare Handschrift“ und „eine in den Kernbereichen“ korrekte Orthographie hätten einigen können, spiegle nur einen Minimalkonsens wider – setze aber keine ambitionierten Ziele für ein besseres Leistungsniveau der Grundschülerinnen und -schüler in den Kernfächern Deutsch und Mathematik bundesweit. Verbandsvorsitzende Prof. Susanne Lin-Klitzing betont: „In der Mathematik halten wir es für unabdingbar, dass neben den schriftlichen Verfahren der Addition, Subtraktion und Multiplikation auch das schriftliche Verfahren der Division eingeführt wird.“
Der Verband appelliert dringend an die Kultusministerkonferenz, die Lern- und Leistungsziele für die Grundschülerinnen und -schüler zu erhöhen und die neuen Bildungsstandards für die Grundschulen für ambitionierte Ziele im Deutsch- und Mathematikunterricht nach oben zu korrigieren. News4teachers / mit Material der dpa
An fast 1.500 Schulen in ganz Deutschland wurden zwischen April und August 2021 etwa 27.000 Viertklässler getestet – in den Bereichen Lesen, Zuhören, Rechtschreibung und Mathematik. Im Vergleich zur letzten Erhebung 2016 entsprachen die Kompetenzrückgänge der Studie zufolge im Lesen etwa einem Drittel, in Rechtschreibung und Mathematik einem Viertel eines Schuljahres. Verglichen mit 2011 liegen die Rückstände sogar bei rund einem halben Schuljahr.
Überall haben sich die Ergebnisse verschlechtert. Besonders auffällig ist es bei der Rechtschreibung: Weniger als die Hälfte der Viertklässler (44 Prozent) erreichte hier den «Regelstandard», also das, was im Schnitt von Schülerinnen und Schülern in diesem Alter erwartet wird und fast ein Drittel (30 Prozent) verfehlte den «Mindeststandard» – heißt: Fast jeder dritte Grundschüler in der vierten Klasse macht so viele Rechtschreibfehler, dass er die definierten Mindestanforderungen nicht erreicht. Beim Lesen, Zuhören und in Mathe erreichte etwa jeder Fünfte nicht die Mindeststandards.
Schülerleistungen verschlechtern sich seit 2011 dramatisch – KMK macht Corona verantwortlich
