BERLIN. Die ersten Bundesländer sind aus den Sommerferien zurückgekehrt. Die aktuellen Krisen treffen auf Kitas und Schulen am Limit. Der Bundesvorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE), Udo Beckmann, sieht bei dem, was politisch passiert – besser: eben gerade nicht passiert -, um Kitas und Schulen bei der Bewältigung der riesigen Herausforderungen zu unterstützen, dass sich die Verantwortlichen von der Lebensrealität an den Bildungseinrichtungen weit entfernt haben. Er warnt vor einer gefährlichen Zuspitzung der Lage.
„Das, was in verschiedenen Bundesländern gerade in Summe an kurzsichtigen, die jahrelangen fundamentalen politischen Versäumnisse kaschierenden Maßnahmen zur ‚Bewältigung‘ der Krisen und deren Auswirkungen auf Schule und Kita verhandelt wird, ist zum einen gefährlich, zum anderen wenig zielführend”, sagt Beckmann und betont: „Die Politik verschiebt teilweise unter dem Deckmantel erweiterter Entscheidungsbefugnisse Verantwortung auf die Schultern des pädagogischen Fachpersonals und der Leitungen an Bildungseinrichtungen, die das weder zu verantworten haben noch lösen können. Das trägt weiteres enormes Konfliktpotenzial in Kitas und Schulen hinein und das geht auf Dauer nicht gut!“
Der VBE-Chef stellt fest: „Was gerade politisch angedacht und teils beschlossen ist, hat in der Summe gravierende Folgen. Es darf nicht die Aufgabe des pädagogischen Fachpersonals und der Leitungen vor Ort sein, frustrierten Eltern und Schüler:innen immer weitere Einschränkungen erklären zu müssen.” Bereits im Mai 2021 habe eine repräsentative Umfrage von forsa im Auftrag des VBE gezeigt, dass es an jeder vierten Schule psychische Gewalt gegen Lehrkräfte gab, die im Zusammenhang mit der Umsetzung von Corona-Schutzmaßnahmen standen (News4teachers berichtete). Jetzt verschärft sich die Situation noch – durch die Integration von Flüchtlingskindern aus der Ukraine, durch die Energiekrise.
“Selbst die Streichung von ganzen Schultagen, Stichwort ‚Vier-Tage-Woche‘, wird offen in Erwägung gezogen”
Die Liste an Beispielen für fatale politische Entscheidungen und Fehlentwicklungen sei lang. Beispielsweise: „Pandemiebedingt, aber nicht nur deshalb, haben kognitive und psychosoziale Defizite bei Kindern und Jugendlichen zugenommen. Es ist Konsens, dass nur eine entsprechende Förderung dabei unterstützen kann, um das aufzuholen, damit die Bildungsungerechtigkeit in unserem Land nicht noch weiter zunimmt. Wohlgeformte Worte von Politiker:innen in diese Richtung hört man viele. Realität aber ist: Aufgrund des eklatanten Fachkräftemangels an Kita und Schule, vor allem hervorgerufen durch politische Versäumnisse weit vor Corona, werden Förderangebote zusammengestrichen, Lerngruppen vergrößert, Stundentafeln gekürzt und der Unterrichtsausfall nimmt zu. Selbst die Streichung von ganzen Schultagen, Stichwort ‚Vier-Tage-Woche‘, wird offen in Erwägung gezogen.”
Hintergrund: Das Land Sachsen–Anhalt will an einem Dutzend Schulen ein Modell mit vier Präsenz-Unterrichtstagen pro Woche und einem Tag fürs Distanzlernen oder praktische Tage in Unternehmen erproben (auch darüber berichtete News4teachers).
Beckmann: „Das Ganze wird gerne garniert mit weiteren Zusatzaufträgen für das pädagogische Fachpersonal, welches ohnehin schon überlastet ist: Es soll auf Covid-19 testen oder, wenn Stufenpläne fehlen, die sich an klaren Kriterien orientieren, entscheiden, wer wann getestet werden muss und welche Konsequenzen sich daraus ergeben: Konflikte vorprogrammiert! Es soll die mittlerweile über 150.000 Kinder und Jugendlichen aus der Ukraine an Schule und weitere Tausende an Kitas integrieren, in dem Wissen, dass nicht einmal eine von zehn Schulen auf Übersetzer:innen oder Lehrkräfte aus der Ukraine zurückgreifen kann. Es soll vor dem Hintergrund der Klimakrise Energie sparen in vielfach maroden und energieineffizienten Gebäuden, die vor allem im Schulbereich über Jahre kaputtgespart wurden, wie uns ein Investitionsstau von annähernd 50 Milliarden Euro – berechnet durch die Kreditanstalt für Wiederaufbau – vor Augen führt. Es soll bereit sein für digitalen Unterricht, vielfach allerdings ohne Rechtssicherheit dazu, was rechtens ist, ohne flächendeckendes WLAN usw..”
Dahinter steckt laut Beckmann „das immer gleiche Muster” der politischen Entscheidungsträger, nur eben in unterschiedlichem Gewand: „Kürzen, schönrechnen, verschieben, verstecken und daraufsetzen, dass die Beschäftigten an Kita und Schule es schon lösen werden. Das Ganze wird zudem gerne damit legitimiert, dass wir alle ja den Gürtel enger schnallen müssen. Zur Wahrheit gehört aber auch: Wenn man keine Luft zum Atmen mehr hat, wie es an Kitas und Schulen viel zu häufig bereits der Fall ist, kann man nichts mehr enger schnallen!“
“Es geschieht das Gegenteil von dem, was es für mehr Bildungsgerechtigkeit und -qualität braucht”
Beckmann weiter: „Anstatt vor dem Hintergrund all dessen zu sagen, ‚Wir haben es verbockt! Wir haben nicht rechtzeitig und konsequent gegensteuert, deshalb ist es jetzt unsere Verpflichtung, alles Notwendige zu tun, was es an wirklich nachhaltigen und wirksamen Maßnahmen braucht, damit das Ganze nicht endgültig gegen die Wand fährt‘, findet die Politik auf der Suche nach Antworten allein die bereits vielfach ausgeschöpften Alibi-Antworten. Wohl wissend, dass Maßnahmen wie die Reaktivierung von Pensionär:innen oder die Gewinnung von Seiteneinsteigenden weitestgehend erschöpft sind. Die Folgen von alledem: Noch mehr Mangel auf Kosten der Qualität, auf Kosten der Kinder, Jugendlichen und der pädagogischen Fachkräfte. Wenn dann noch Programme, die sich als äußert erfolgreich und immens wichtig etabliert haben, wie das Förderprogramm zur alltagsintegrierten Sprachbildung und Partizipation an Kitas kurzerhand gestrichen werden, wie von der Bundesregierung kürzlich verkündet, bleibt nur noch Fassungslosigkeit.“
Hintergrund: Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) hat erklärt, dass der aktuelle Entwurf des Bundeshaushaltes 2023 keine weiteren Mittel für das seit elf Jahren laufende Bundesprogramm „Sprach-Kitas“ bereitstellt – ausgerechnet zu einem Zeitpunkt also, an dem Tausende von ukrainischen Kindern in die Einrichtungen kommen (hier geht es zum News4teachers-Bericht dazu).
Wütend formuliert der VBE-Bundesvorsitzende: „Die Krone setzt dem Ganzen die Bundesbildungsministerin auf, wenn sie sagt, sie sei zuversichtlich, dass es im Schuljahr 2022/2023 wieder einen ‚normalen Schulalltag‘ geben kann. Das ist nicht nur Augenwischerei, das ist auch brandgefährlich, denn hier wird als ‚normal‘ verkauft, was schon lange nicht mehr normal, sondern Mangelverwaltung ist.”
Hintergrund: Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) hatte unlängst erklärt, „das nächste Schuljahr muss ein normales werden, zumindest so normal, wie es nur möglich ist. Dafür werde ich kämpfen”. Wie sie dafür „kämpfen” will – außer mit Verboten von Schulschließungen und der Maskenpflicht in Grundschulen – sagte sie nicht.
Beckmann entgegnet: „Die Ampel steht bereits auf Dunkelrot. Wenn es die Politik ernst meint mit dem Jahrzehnt der Bildungschancen, wie es im Koalitionsvertrag der Bundesregierung proklamiert steht, braucht es mehr, viel mehr! Statt Schönfärberei braucht es deutlich mehr Geld, deutlich mehr Anstrengungen und eine bundesweite Fachkräfteoffensive im gesamten Bildungsbereich! Andernfalls verstärken wir den Teufelskreis, weil junge Menschen, die sich für das Berufsfeld interessieren, ob der Rahmenbedingungen abgeschreckt werden und sich der Personalmangel weiter manifestiert. Dass wir uns das nicht einmal ansatzweise leisten könnten, hat eine im Frühjahr 2022 vom VBE beim Bildungsforscher Prof. Klemm in Auftrag gegebene Untersuchung nochmals mehr als deutlich gemacht (News4teachers berichtete ausführlich – hier): Im Jahr 2035 fehlen bis zu 158.000 Lehrkräfte! Ein Vielfaches von dem, was die Kultusministerkonferenz auf Basis unseriöser Berechnungen der Länder zuvor hat verlautbaren lassen. Wenn es eine wirkliche Trendwende geben soll, dann muss der Fachkräftemangel an Kita und Schule von den Ländern ohne Wenn und Aber endlich zur Chefsache gemacht werden!“ News4teachers