HALLE. Grenzen der Zugehörigkeit? Laut Ethnologin Annika Lems erfülle sich für viele Geflüchtete die Hoffnung von “Integration durch Bildung” im Bildungssystem nicht. Selbst bei denjenigen, denen die Aufnahme gelungen ist, sei der erhoffte soziale Aufstieg häufig verbaut.
Als 2015 Tausende Geflüchtete nach Europa kamen, waren die Solidarität groß und die Hilfsangebote vielfältig. Besonders unbegleitete Kinder und Jugendliche wurden mit Empathie empfangen. Für sie wurden besondere Angebote entwickelt, mit denen große Hoffnungen auf eine schnelle Integration durch Bildung verbunden waren. Die Ethnologin Annika Lems hat 16 junge Geflüchtete begleitet und in ihrem im Juli 2022 erschienen Buch beschrieben, warum sich das Versprechen auf Integration durch Bildung für viele der Jugendlichen nicht erfüllt habe und wie bürokratische Hürden den Anspruch auf Vielfalt und Teilhabe konterkarierten.
Aufstieg durch Bildung – das falsche Versprechen
Die gesellschaftliche Integration von Geflüchteten hat sich für Europa spätestens seit 2015 zu einer politischen Daueraufgabe entwickelt, über die hoch emotional und überaus kontrovers diskutiert wird. Diese Situation hat eine Fülle wissenschaftlicher Studien hervorgebracht, die sich mit sozialen, rechtlichen und humanitären Aspekten der weltweiten Fluchtbewegungen beschäftigen. „Trotz all dieser Forschungsprojekte gibt es aber kaum fundierte wissenschaftliche Erkenntnisse über das Leben von unbegleiteten Kindern und Jugendlichen in Europa“, sagt Lems, Forschungsgruppenleiterin am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung.
In ihrem Buch beschreibt sie den Weg von 16 jungen Menschen aus Eritrea, Guinea und Äthiopien durch das Schweizer Bildungssystem. „Schulpflichtige Kinder und Jugendliche unterliegen einer besonderen staatlichen Fürsorgepflicht, denn sie haben einen rechtlichen Anspruch darauf, in das staatliche Bildungssystem aufgenommen zu werden“, erklärt Lems. Die Ethnologin hat auf der Basis eines dreijährigen Forschungsprojekts an der Universität Bern im Detail analysiert, wie die integrative Stimmung im Jahr 2015 immer mehr in eine restriktive Praxis umgeschlagen sei. Dadurch sei inzwischen selbst denjenigen, denen die Aufnahme in das Bildungssystem gelungen ist, der erhoffte soziale Aufstieg häufig verbaut.
Inklusive Exklusion – die unsichtbaren Grenzen
„Meine Fallstudie ist in der Schweiz entstanden, aber überall in Europa lassen sich ganz ähnliche Tendenzen feststellen: Das Bildungssystem wird mehr und mehr zu einem Instrument der Exklusion, das frühzeitig dazu dient, darüber zu entscheiden, wer dazu gehört und wer draußen bleiben muss“, sagt Lems. Gerade die besondere Schutzbedürftigkeit von Kindern und Jugendlichen und die daraus folgenden Rechte haben im Laufe der Zeit zu großem Misstrauen geführt, denn hinter jedem Jugendlichen könnte sich ja auch ein volljähriger – in populistischen Diskursen als „Schein- oder Wirtschaftsmigrant“ bezeichneter – Betrüger verbergen, der sich ins europäische Sozialsystem einschleichen will. „Wer es dennoch schafft, in eine reguläre Schule aufgenommen zu werden, muss dann ständig beweisen, dass er dieses Privileg auch wirklich verdient und nicht vielleicht doch zu einem Problemfall wird, der dem Steuerzahler auf der Tasche liegt“, erklärt Lems. „Diese ständige besondere Beobachtung schafft nahezu unsichtbare Grenzen mit der Folge, dass die Jugendlichen nie richtig dazugehören. Sie bleiben innerhalb des Systems ausgeschlossen.“ Diese Praxis führt dazu, dass viele Jugendliche resignieren oder rebellieren, was wiederum neue Grenzziehungen zur Folge hat.
Inklusion durch Bildung – verpasste Chancen
Trotz aller Kritik am Umgang mit unbegleiteten Kindern und Jugendlichen, die Annika Lems anhand ihrer Beobachtung des Schulalltags beschreibt, bleibt dennoch auch Hoffnung. Denn inzwischen haben alle 16 Jugendlichen eine Berufsausbildung abgeschlossen und sind Mitglieder der Schweizer Gesellschaft geworden. „Aber der Weg dorthin war holprig und viel schwerer als er hätte sein müssen“, sagt Lems.
Und bei allen Bemühungen um Integration werden eben auch Chancen verpasst. Annika Lems: „Einer der Jugendlichen aus Eritrea kam mit einer hervorragenden Schulbildung in die Schweiz. Er war sehr ehrgeizig und träumte davon, aufs Gymnasium zu gehen und Medizin zu studieren. Aber dieser Wunsch passte einfach nicht ins Raster seiner Betreuer und Lehrer. Es hat ihm einfach niemand zugetraut, dass er es auf eine Universität schaffen würde, obwohl er alle Voraussetzungen dafür mitgebracht hat.“ Stattdessen wurde ihm nahegelegt, eine Lehre als Kunststofftechnologe zu machen. Diese hat er erfolgreich abgeschlossen und arbeitet heute in einem Unternehmen, das medizinische Produkte herstellt. „Man kann also nicht sagen, dass Inklusion durch Bildung gar nicht funktioniert, aber es wird durch die gegenwärtige Praxis, die Gelegenheit versäumt, viele junge Menschen zu hochqualifizierten Fachkräften auszubilden. Und das können sich die europäischen Gesellschaften eigentlich nicht leisten. (zab, pm)
- Annika Lems‘ Buch “Frontiers of Belonging: The Education of Unaccompanied Refugee Youth “ ist bei Indiana University Press erschienen.
Bildungsintegration geflüchteter Jugendlicher: Es kommt darauf an, wo man wohnt
