DÜSSELDORF. Er gleicht einem Sprung ins kalte Wasser, der Seiteneinstieg in den Lehrerberuf. Für ihre fünfteilige Podcast-Reportage „Plötzlich Lehrer“ hat News4teachers-Redakteurin Laura Millmann einen dieser Novizen im Schuldienst, die zumeist kein Lehramtsstudium oder Referendariat absolviert haben, begleitet – fast drei Jahre lang. Darüber hinaus versucht sie, wichtige Fragen zu klären: Was bringt Menschen dazu? Welche Hürden müssen sie auf ihrem Weg überwinden und wie ist es, dann tatsächlich vor einer Klasse zu stehen? Und die vielleicht wichtigste: Sind Seiteneinsteiger*innen eher eine Belastung oder eine Bereicherung für das Bildungssystem? Folge 1: Erste Schritte.
Fast drei Jahre lang hat Laura Millmann Andre Diehl aus Dortmund auf seinem Weg als Seiteneinsteiger in die Schule begleitet. Eigentlich war das Projekt nur für ein halbes Jahr angelegt, aber durch die Corona-Pandemie sind aus einem halben Jahr drei Jahre der intensiven Begleitung und Recherche geworden. Die erste Folge der Reportagereihe befasst sich mit dem Einstieg in den Lehrerberuf.
Wir beginnen im August 2020 in der Sporthalle der Emschertal Grundschule in Dortmund. Hier unterrichtet Andre Diehl in seinem zweiten Jahr Sport. Der Dortmunder hat vor 20 Jahren Sport auf Diplom studiert und zunächst verschiedene Berufe ausprobiert. „Ich hatte damals andere Vorstellungen, hab gedacht, ich muss Karriere machen“, erzählt er im Interview. Dann wurde er Integrationshelfer an einer Schule in Dortmund. „Die Arbeit mit den Kindern hat mir Spaß gemacht und die Lehrkräfte an dieser Schule haben mich dann ermutigt, den Schritt zu wagen und selbst Lehrer zu werden.“
Düstere Prognosen für die Zukunft
Egal, wohin man schaut, die Lage ist in fast allen Bundesländern die gleiche: Was zunächst als Notlösung gedacht war, ist nun der Normalfall geworden. Seiteneinsteiger*innen stopfen eine Lücke, vor der Expertinnen und Experten seit langem warnen – und die in den nächsten Jahren noch weiter wachsen wird.
Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat 2022 prognostiziert, dass bis zum Jahr 2030 rund 14.000 Lehrkräfte in Deutschland fehlen werden. Klaus Klemm, Bildungsforscher aus Essen, widerspricht dieser Zahl jedoch: Er rechnet mit mindestens 81.000 fehlenden Lehrkräften im selben Zeitraum. Auf die Frage, wie es zu diesen unterschiedlichen Prognosen kommt, erklärt Klaus Klemm: „Es hat schlicht mit der Berechnung von Angebot und Nachfrage zu tun.“ Bei der Nachfrage, also den Schülerzahlen, kämen er und die KMK auf fast identische Werte. Der Unterschied liege in der Berechnung des Angebots. Denn laut Klaus Klemms Berechnung werden in den kommenden Jahren sowohl die Anzahl der Abiturient*innen als auch die Zahl der Absolvent*innen im Bereich Lehramt sinken. Zudem kritisiert der Bildungsforscher, dass die KMK ihre Zahlen nicht selbst erhebt, sondern nur die Zahlen zusammenrechnet, die ihr die einzelnen Bundesländer liefern.
Expert*innen aus dem Bildungsbereich sehen in Anbetracht dieser Zahlen inzwischen das Grundrecht auf Bildung in Gefahr, da so viele offene Stellen an den Schulen unbesetzt sind. Einige Unterrichtsfächer sowie außerschulische Lernangebote müssen schon heute aufgrund von Personalmangel aus dem Lehrplan an einigen Schulen gestrichen werden. Hinzu kommt, dass die Politik neue Aufgaben wie Inklusion oder ein Ganztagsangebot an Schulen beschlossen hat – ohne jedoch zusätzliches Lehrpersonal dafür bereitzustellen. „Die Politik hat zu spät auf die gestiegenen Geburtenzahlen reagiert“, kritisiert Klaus Klemm. „Es müssen dringend mehr Studienplätze geschaffen werden.“
Kreative Lehrersuche
Viele Bundesländer sind derzeit dabei, Studienkapazitäten zu erhöhen, auch NRW. Das Problem: Eine Erhöhung der Studienplätze wird erst in den kommenden Jahren greifen. Deshalb braucht es andere, kurzfristigere Lösungen, um den Lehrkräftemangel abzuschwächen. In Nordrhein-Westfalen setzt die aktuelle Schulministerin Dorothee Feller (CDU) beispielsweise auf finanzielle Anreize für neueingestellte Lehrkräfte, Pensionäre, die wieder an die Schulen geholt werden, abgeordnete Lehrkräfte von anderen Schulformen – und natürlich Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteiger.
Auch die KMK hat Ende Januar 2023 Lösungsvorschläge präsentiert, basierend auf den Empfehlungen der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK). So sollen nach Ansicht der KMK zum Beispiel Teilzeitmöglichkeiten für die Lehrkräfte begrenzt oder die Klassengrößen erhöht werden. Für die GEW sind diese Vorschläge ein absolutes No-Go. Die Vorsitzende der GEW Nordrhein-Westfalen, Ayla Çelik, plädiert stattdessen für multiprofessionelle Teams an den Schulen, weniger Bürokratie sowie für die Einführung von Verwaltungsassistent*innen. Diese sollen dann alle nichtpädagogischen Aufgaben übernehmen, die im Schulalltag anfallen, damit Lehrkräfte wieder mehr Zeit für ihr Kerngeschäft haben, das Unterrichten.
Natürlich bekommt auch Andre Diehl all die Diskussionen um den Lehrermangel mit. Auch an seiner Schule sei die personelle Situation „auf Kante genäht“, wie er sagt. Dennoch hat er für sich entschieden, im Schulsystem bleiben zu wollen. Sein einziger Wunsch ist, dass er in Zukunft die Möglichkeit haben wird, sich weiter fortzubilden, um seine Kolleginnen und Kollegen noch besser unterstützen zu können. News4teachers.
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Die Recherche für diese Reportage wurde finanziert vom Verein für Recherche und Reportage e.V.
Musik: © pixabay
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