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“Alles ist gut, was Druck aus dem Regelsystem herausnimmt – und Schulen Freiräume gibt”: Montessori-Vorsitzender Boysen im Interview

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BERLIN. War da was? Anfang Dezember erschien die jüngste Ausgabe der PISA-Studie – mit den für Deutschland schlechtesten Ergebnissen, die jemals gemessen wurden. Der Schock darüber scheint nicht besonders stark gewesen zu sein. Nach einem kurzen Aufschrei ist die Debatte über mögliche Konsequenzen weitgehend erlahmt. Haben wir uns also schon an die Bildungskrise als Dauerzustand gewöhnt? Einer, der das nicht gelten lassen will, ist Jörg Boysen, Bundesvorsitzender von Montessori Deutschland. Wir sprachen mit ihm über seine Perspektive auf PISA und die Folgen.

“Wer ein weißes Blatt Papier vor sich hätte und ein Schulsystem konzipieren sollte, würde das kaum so machen, wie unser System aussieht”: Dr. Jörg Boysen, Bundesvorsitzender von Montessori Deutschland. Foto: Montessori Deutschland / Sabine Kristan

News4teachers: Hat Sie die PISA-Studie in Ihren Ergebnissen in irgendeiner Form noch überraschen können?

Boysen: Wenn man in die Details der Erhebung schaut, sieht man, dass die Kinder aus dem Bildungsbürgertum relativ gut abgeschnitten haben. Aber auch deren Ergebnisse waren im internationalen Maßstab nicht so toll, wie man es eigentlich vom gegliederten Schulsystem erwarten dürfte. Von dem wird ja behauptet, dass es leistungsstärker sein soll als integrierte Systeme. Tatsächlich aber finden sich in Deutschland viel weniger Schülerinnen und Schüler in der Leistungsspitze als in den PISA-Erfolgsländern. So erfüllen etwa neun Prozent der Schülerinnen und Schüler in Deutschland die Anforderungen von Stufe 5 oder 6 des PISA-Mathematiktests – in Japan und Korea sind das jeweils 23 Prozent.

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Dazu kommt in Deutschland dann noch das altbekannte Problem, dass diejenigen, die zu Hause keine ausreichende Förderung bekommen, deutlich schlechter abschneiden. Dass sich daran seit der ersten PISA-Studie vor 22 Jahren praktisch nichts geändert hat, ist schon sehr beunruhigend.

News4teachers: Nun wird Montessori-Einrichtungen vorgeworfen, selbst wenig zum sozialen Ausgleich beizutragen, weil sie sich als freie Schulen die Schülerinnen und Schüler aussuchen können…

Nienhuis Montessori

Kennen Sie Albert Nienhuis? Der niederländische Zimmermann stellte in enger Zusammenarbeit mit Maria Montessori Lernmittel her, die ihrer pädagogischen Vision entsprachen. 1929 gründete er Nienhuis Montessori, den weltweit führenden Anbieter von Montessori-Materialien.

Seit über 85 Jahren vereint das Unternehmen Handwerkskunst mit technischer Finesse. Die Produktwelt von Nienhuis Montessori ermöglicht es Kindern heute so gut wie zu Albert Nienhuis Zeiten, ihre Welt eigenständig zu erkunden. Wir nutzen nur beste Materialien, verarbeitet mit Sorgfalt, Hingabe, dem Blick fürs Detail – und einer tiefen Verbundenheit mit der Pädagogik Maria Montessoris. Seit Jahrzehnten bereits ist Nienhuis Montessori offiziell von der Association Montessori Internationale anerkannt. Erfahren Sie hier mehr über Nienhuis und unsere AMI-anerkannten Montessori-Materialien. 

Boysen: Zunächst mal ist es so, dass die in Montessori Deutschland zusammengeschlossenen Schulen in der Regel nicht an der PISA-Studie mitgewirkt haben. Wir haben also keine Ergebnisse, die wir zum Vergleich heranziehen könnten. Richtig ist zwar, dass das Angebot der freien Montessori-Einrichtungen vor allem von bildungsnahen Eltern wahrgenommen werden – in einem Bundesland wie Nordrhein-Westfalen, wo es viele staatliche Montessori-Schulen gibt, dürfte das aber schon ganz anders aussehen.

Wir können nichts dafür, dass das Regelschulsystem in Deutschland ist, wie es ist, und dass für die meisten Kultusministerinnen und Kultusminister Montessori-Pädagogik kein großes Thema ist. Unserer Meinung nach sollte es das schon sein, denn die Leistungen des Regelschulsystems sind ja nicht so überzeugend, dass man nicht mal über Alternativen nachdenken könnte. Falsch ist in jedem Fall die Vorstellung, dass Montessori-Pädagogik sich nur für Kinder aus dem Bildungsbürgertum eignen würde. Das zeigt schon die Entstehungsgeschichte: Maria Montessori eröffnete 1907 ihr erstes Kinderhaus im römischen Stadtteil San Lorenzo – damals ein Elendsviertel.

Jedes Kind hat den Drang und die Fähigkeit, „Baumeister seiner selbst zu sein“, wie Montessori es formuliert hat, also sich selbst zu entwickeln und, wie wir heute vielleicht sagen würden, Selbstwirksamkeit zu erfahren. Es muss dabei nur kompetent begleitet und unterstützt werden.

News4teachers: Was ist denn Ihre Kritik am Regelschulsystem?

Boysen: Wer ein weißes Blatt Papier vor sich hätte und ein Schulsystem konzipieren sollte, würde das kaum so machen, wie unser System aussieht, das ja im Grunde seit 200 Jahren besteht: ein Abbild der Ständegesellschaft – mit einem Gymnasium für den Adel, einer Realschule fürs Bürgertum und einer Hauptschule für die Arbeiterschaft. Daraus ist im Lauf der Zeit ein Wildwuchs entstanden, den man niemandem mehr erklären kann. Ich glaube, es gibt in Deutschland mittlerweile 18 Schulformen. Wer mit Schulkindern von Nordrhein-Westfalen nach Bayern umziehen muss, hat ein echtes Problem.

Dazu kommt, dass das System auf Druck aufbaut: Notendruck, Selektionsdruck, Druck, nicht sitzenzubleiben. Wie soll sich da denn Lernfreude entwickeln? Schlimmer noch: Die Zahl der Kinder mit psychischen Auffälligkeiten steigt und steigt. Dazu kommt, dass das Regelschulsystem mit seinen starren Strukturen, mit seiner Sortierung nach Alterskohorten wenig Raum fürs soziales und kollaboratives Lernen bietet. In den altersgemischten Gruppen der Montessori-Einrichtungen finden Kinder viel leichter einen Weg, soziale Konflikte selbst zu lösen, ohne die Hilfe der Erwachsenen in Anspruch zu nehmen. Außerdem Lernen sie, gemeinsam Probleme zu lösen und zu lernen.

News4teachers: Was ist mit den Lehrkräften im Regelsystem – würden die meisten nicht auch lieber freier und individueller unterrichten?

Boysen: Ich glaube schon. Ich erlebe Lehrer und Lehrerinnen generell als sehr engagiert; sie überlegen immer, wie sie wirksamer sein könnten. Das ist im Regelschulsystem nicht leicht in dem Korsett, in dem sie stecken – schon durch die Lehrerausbildung an den Universitäten und im Referendariat. Viele sind nicht vorbereitet auf das, was sie dann im schulischen Alltag erleben. Unsere Lehrkräfte haben diese Ausbildung ja auch durchlaufen. Das ist keine ideale Ausgangssituation. Unseren Neulingen müssen wir häufig erst erklären, dass man Schule und Unterricht auch anders gestalten kann als im Regelschulsystem und dass es in der pädagogischen Arbeit mehr Freiheitsgrade gibt, als sie sich vorstellen können.

News4teachers: Was würden Sie am Regelschulsystem ändern wollen?

Boysen: Die Positionen, über die öffentlich gestritten wird, gehen ja in völlig unterschiedliche Richtungen. Die einen wollen, dass das gegliederte Schulsystem noch früher anfängt, die anderen wollen es komplett abschaffen. Dann wird darüber gestritten, ob man die Verantwortung für die Bildungspolitik von den Ländern auf den Bund übertragen sollte. Oder ob der Bund den Ländern nicht einfach mehr Geld überweisen müsste. Aus meiner Sicht sind das alles Punkte, die an den Symptomen herumdoktern. Sie gehen am Kern vorbei.

News4teachers: Und der wäre?

Boysen: Das Instrumentarium, das es gibt, ist durch das System vorgegeben. Dazu gehört der 45-Minuten-Takt, die Alterskohorten, das Prinzip, allen den gleichen Unterricht vorzusetzen. Es gibt Hausaufgaben für alle, alle schreiben die gleichen Klausuren. Wenn man das dann nicht zum richtigen Zeitpunkt schafft, heißt es: sitzenbleiben.

Dazu kommt eine Selektion in Schulformen, die zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen, die wir heute über die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen haben – und damit meine ich nicht nur die Arbeit von Maria Montessori –, ja gar nicht mehr passt. Der eine Schüler ist in einem Bereich ein bisschen vorneweg, die andere Schülerin woanders. Wenn man sich die einzelnen Kinder anschaut, dann würde man nie ein System entwickeln wie unser Regelschulsystem, sondern man würde ein Lernsetting suchen, das der Individualität Rechnung trägt. Und man würde die Rolle der Lehrkräfte anders definieren, nämlich als Beobachter und Lernbegleiter der Kinder und Jugendlichen – keiner würde auf die Idee kommen, alle gleichzeitig mit dem gleichen Stoff zu beglücken. Das kann nicht klappen. So zieht sich das durch das System von vorne bis hinten.

News4teachers: Die PISA-Aufgaben testen nicht Schulwissen ab. Schülerinnen und Schülern wird vielmehr abverlangt, Schlüsse zu ziehen, zu kombinieren, Kompetenzen zu zeigen. Ist das eine Herangehensweise, mit der das tradierte Schulsystem aus Ihrer Sicht überfordert ist? Und ist Montessori-Pädagogik da besser?

Boysen: Ab der Grundschule versuchen wir Zusammenhänge darzustellen, indem wir fächerübergreifend unterrichten. Dazu kommt, dass in Montessori-Einrichtungen Schülerinnen und Schüler unterschiedlichen Alters zusammenarbeiten. Sie bringen entsprechend unterschiedliche Erfahrungen und Kenntnisse ein. Dadurch entsteht ein kreativerer Prozess, als wenn jeder Schüler und jede Schülerin allein für sich die Aufgaben erledigt.

News4teachers: Nun kommt PISA auch zu dem Ergebnis, dass es bei den Grundfertigkeiten hapert. Rund ein Viertel der Schülerinnen und Schüler verfügen nicht über ein ausreichendes Leseverständnis. Worauf führen Sie das zurück?

Boysen: Wenn die Voraussetzungen nicht geschaffen wurden, dann läuft man immer hinterher – und kann nur noch versuchen, die schlimmsten Defizite irgendwie auszugleichen. Die Grundlagen zu legen, das fängt bei der frühkindlichen Bildung an, bei uns im „Nest und den „Kinderhäusern“, wie die Kitas der Montessori-Einrichtungen meistens heißen.

Das Lernen beginnt bei den Allerkleinsten. Sie lernen in dieser Altersstufe bei allem, was sie tun und beobachten, unglaublich viel. Wichtig ist daher, dass die Erzieherinnen und Erzieher Wissen über und Verständnis für die kindliche Entwicklung haben. Sie sehen, wo die Kinder womöglich etwas zurückliegen, wie sie diese ermuntern und anregen können, um sich weiterzuentwickeln. Das ist eine Haltungssache. Man schaut immer, wo das Kind steht, wie es sich entwickeln kann, und was man tun kann, um es zu fördern. Dazu kommt, dass die Eltern eingebunden werden müssen, um eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Erzieherinnen und Eltern aufzubauen.

News4teachers: Wenn Sie Bildungsminister von Deutschland wären und es keinen Bildungsföderalismus gäbe, Sie könnten frei entscheiden und hätten auch Ressourcen zur Verfügung – was würden Sie am ersten Tag tun?

Boysen: Diese Frage habe ich befürchtet. Ich kann nicht sagen, dass ich das weiß. Nur ein paar Details zu ändern, das dürfte wenig bewirken. Unsere Einrichtungen, die sich in Montessori Deutschland zusammengeschlossen haben, verfügen über ein Konzept, in dem die Bestandteile zusammenpassen: die Rolle der Lehrkraft, die Gestaltung der Unterrichtsorganisation, die vorbereitete Umgebung. Man kann deshalb nicht sagen, okay, ich picke mir mal das eine oder das andere heraus – und schon wird’s besser im Regelschulsystem.

Zum Beispiel die Zensuren abschaffen: Das würde nur dann funktionieren, wenn gleichzeitig das Unterrichtssetting angepasst wird, um die womöglich verlorengegangene Eigenmotivation wieder zu aktivieren. Einzelne Schulen zeigen allerdings, dass auch im staatlichen Schulwesen hervorragendes pädagogisches Engagement möglich ist – und dass die Kollegien darin, wenn sie bis an die Grenzen des Erlaubten gehen, nach Montessori-Prinzipien arbeiten können. Die Kultusministerien wollen das nicht, jedenfalls nicht für uns erkennbar. Aber es gibt starke Schulleitungen, die ihre Vorstellungen durchsetzen.

Grundsätzlich würde ich aber schon sagen: Alles ist gut, was Druck aus dem Regelsystem herausnimmt und den Schülerinnen und Schülern sowie den Lehrkräften Freiräume gibt, das Lernen selbst zu organisieren. Wenn sich Kultusministerinnen und Kultusminister darüber informieren möchten, wie Lernen in einem freien Setting funktioniert, bieten wir gerne unsere Expertise an. Die Einladung gilt übrigens für alle Lehrkräfte, die sich für Montessori-Pädagogik interessieren und sich einen Umstieg vorstellen können: Wir vermitteln gerne Kontakte, um zu hospitieren. News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek führte das Interview.

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