BERLIN. Der Philologenverband reagiert mit Schärfe auf die in dieser Woche vorgestellte Studie des ifo-Instituts, wonach die Bildungschancen in Deutschland höchst ungleich verteilt sind – festgemacht an der je nach Bundesland unterschiedlichen Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind aus einer armen Familie aufs Gymnasium kommt. Warum eigentlich? Eine Analyse von News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek.
„Mit seriöser Statistik hat diese Untersuchung nichts zu tun.“ Mit scharfen Worten kommentiert die Mathematikerin und Vorsitzende des Philologenverbandes Rheinland-Pfalz, Cornelia Schwartz, die in dieser Woche erschienene Studie des renommierten ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung zur Bildungsgerechtigkeit in Deutschland (News4teachers berichtete). „Anders als mit der Bezeichnung ‚fake news‘ lässt sich die Interpretation der Zahlen durch die sogenannten Bildungsökonomen der Forschungseinrichtung nicht charakterisieren. Sie schadet den Bemühungen um bessere Bildung erheblich“, meint Schwartz.
„Bildung und Einkommen der Eltern sind entscheidende Faktoren für die Bildungschancen von Kindern in Deutschland“
Richtig ist: Die Studienautorinnen und -autoren betrachten allein die Verteilung der Kinder auf Schulformen, nicht das Leistungsniveau in den Bundesländern. Am wenigsten negativ wirkt sich danach ein ungünstiger familiärer Hintergrund für Kinder in Berlin und Brandenburg aus: Es ist etwa halb so wahrscheinlich (Berlin: 53,8 Prozent; Brandenburg: 52,8 Prozent), dass Kinder aus benachteiligten Verhältnissen ein Gymnasium besuchen wie Kinder aus günstigen Verhältnissen. Bundesweit beträgt der Wert 44,6 Prozent. Am unteren Ende liegen Sachsen mit 40,1 und Bayern mit 38,1 Prozent. Chancengleichheit wäre bei 100 Prozent erreicht. „Bildung und Einkommen der Eltern sind entscheidende Faktoren für die Bildungschancen von Kindern in Deutschland. Aber dies gilt in den Bundesländern in unterschiedlichem Ausmaß“, sagt Prof. Ludger Wößmann, Co-Autor der Studie und Leiter des ifo Zentrums für Bildungsökonomik.
Eine solche Festlegung, die Bildungschancen nur am Namen des Bildungsgangs festmache, sei absurd, meint nun Philologen-Landeschefin Schwartz. „Völlig nebensächlich scheint den Studienautoren das, was in den jeweiligen Bildungseinrichtungen vermittelt und gelernt wird. Absolut unbeachtet bleibt auch die Tatsache, dass die meisten Arbeitgeber einen Bewerber mit einem ordentlichen bayerischen Realschulabschluss einem mittelmäßigen Berliner Abiturienten vorziehen, so dass sich die Chancengerechtigkeit der Absolventen auf dem späteren Arbeitsmarkt gänzlich anders darstellt“, behauptet Schwartz. Das ist nachweislich falsch, wie die Studienautorinnen und -autoren darlegen: Danach verdienen Menschen mit Abitur im Durchschnitt monatlich netto 42 Prozent mehr als Menschen ohne Abitur.
Auch scheint Schwartz nicht aufzufallen, dass sie mit ihrer Argumentation ihrer eigenen Klientel – Gymnasiallehrkräften – in den Rücken fällt. Realschulen (in Bayern), die angeblich ein höheres Bildungsniveau bieten als Gymnasien (in Berlin)? Wäre dem so, müsste das enorm am Selbstverständnis des Gymnasiums kratzen, das für sich in Anspruch nimmt, als praktisch einzige Schulform wissenschaftspropädeutisch zu arbeiten. Noch problematischer: Dem gymnasialen Leistungsgedanken tun die Philologen einen Tort an, wenn sie den Eindruck erwecken, die Sozialauswahl der Schülerinnen und Schüler fürs Gymnasium, für die die ifo-Studie zumindest ein Indiz liefert, zu verteidigen. Sie bestätigt übrigens damit nur einen längst durch PISA bekannten Befund.
„Im Übrigen zeugt das Papier des ifo-Instituts von einer unerträglichen Arroganz gegenüber der guten Arbeit, die an Realschulen und Hauptschulen geleistet wird“
Dass es tatsächlich um faire Bildungschancen gar nicht geht – die doch im Sinne gerade der Gymnasien sein müssten –, wird in der weiteren Argumentation dann deutlich. „Wir hätten nach dem verfehlten Ansatz der Studie ein Optimum an Bildungsgerechtigkeit, wenn wir alle Schulformen außer dem Gymnasium abschaffen würden“, meint Schwartz und unterstellt dem ifo-Institut, für die Einheitsschule zu kämpfen. Ersteres stimmt zwar, lässt aber außer Acht, dass es auch andersherum ginge: Mit einer möglichst optimalen Förderung benachteiligter Kinder nämlich – und mit einer konsequenten Auswahl der gymnasialen Klientel nach strengen Leistungskriterien, an denen auch Arzt- und Rechtsanwaltskinder nicht mehr vorbeikommen.
Das wäre naheliegender – und entspräche auch dem Selbstbild, das der Philologenverband Rheinland-Pfalz auf seiner Homepage vermittelt: „Die Ausrichtung des Gymnasiums an der allgemeinen Studierfähigkeit verlangt eine breite und vertiefte Vermittlung anspruchsvoller Inhalte auf hohem Anforderungsniveau. Der Philologenverband lehnt deshalb alle Vorschläge entschieden ab, die eine qualitative Beeinträchtigung dieser Bildungsarbeit zum Ergebnis haben könnten“, so heißt es dort. Der Befund, dass Schülerinnen und Schüler in Deutschland nur deshalb aufs Gymnasium kommen, weil solvente Eltern es für selbstverständlich erachten (und auch den Druck entfalten, dies dann durchzusetzen), widerspricht diesem Anspruch deutlich.
„Im Übrigen zeugt das Papier des ifo-Instituts von einer unerträglichen Arroganz gegenüber der guten Arbeit, die an Realschulen und Hauptschulen geleistet wird“, meint Schwartz, das verbreitete Statusdenken von Eltern in Deutschland mit der Haltung der ifo-Forscher*innen verwechselnd. Die Studie kann aber auch als Unterstützung dafür gelesen werden, das Gymnasium zu einer Schulform zu entwickeln, die sich tatsächlich der kognitiv besonders begabten Schülerinnen und Schüler annimmt – unabhängig von deren familiärer Herkunft. Welches Potenzial hierzulande für die Gymnasien verloren geht, weil Talente nicht erkannt werden: Das ist der eigentliche Aufreger. News4teachers