Website-Icon News4teachers

Sprach- und Lesekompetenzen: Was hilft gegen die Defizite? “Digitale Medien ermöglichen eine gezielte Förderung”

DORTMUND. Chancengerechtigkeit im Bildungssystem ist in Deutschland ein seit Jahrzehnten ungelöstes Problem. Auf einen Grund dafür hat jüngst das Institut für Schulentwicklungsforschung (IFS) der Universität Dortmund hingewiesen. Dessen Sonderauswertung der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) zeigt: Grundschulkinder mit nicht-deutscher Familiensprache erhalten kaum spezielle Leseförderung, obwohl sie besondere Defizite im Bereich der Lesekompetenz aufweisen (News4teachers berichtete). News4teachers sprach mit der Instituts- und Studienleiterin Professorin Nele McElvany über Gründe, Unterstützungsmöglichkeiten und Konsequenzen für die Förderpraxis.

Studien zeigen: Grundschulkinder mit nicht-deutscher Familiensprache weisen besondere Defizite im Bereich der Lesekomkpetenz auf – erhalten aber kaum spezielle Leseförderung. (Symbolfoto) Foto: shutterstock

News4teachers: Eine der jüngeren IGLU-Sonderauswertungen des IFS zeigt, dass Grundschulkinder mit nicht-deutscher Familiensprache deutliche Lesekompetenzrückstände aufweisen, eine spezifische Förderung an den Schulen aber oftmals ausbleibt. Hat Sie das Ergebnis überrascht?

Nele McElvany: Tatsächlich hat es mich überrascht, denn wir konnten keinen Zusammenhang feststellen zwischen der Häufigkeit der Förderung und dem Anteil der Kinder mit nicht-deutscher Familiensprache in einer Klasse beziehungsweise an einer Schule. Vor der Untersuchung hatte ich die Hypothese, dass häufiger gefördert wird, wenn es mehr Kinder mit nicht-deutscher Familiensprache gibt.

Anzeige

News4teachers: Darüber hinaus geht aus der Untersuchung hervor, dass die Lesekompetenz von Grundschulkindern noch geringer ausfällt, wenn sie die deutsche Sprache erst mit Beginn ihrer Schulzeit erlernen. Was bedeutet das für die notwendige Förderung?

Evidenzbasierte Leseförderung in heterogenen Klassen: Mit eKidz leicht gemacht!

Seit beinahe 10 Jahren setzt Hamburg erfolgreich auf eine flächendeckende Leseförderung. Mit dabei seit 2022: eKidz, eine wissenschaftlich basierte App für Lesediagnose und Lesetraining. Auch andere Bundesländer, zum Beispiel Niedersachsen, setzen die App ergänzend zu Methoden wie etwa dem Hamburger Leseband an Grundschulen ein.

Der Grund: Die eKidz-App ist konzipiert für das eigenständige Leseflüssigkeitstraining in der Schule und zuhause. Sie schult unterschiedliche Teilkompetenzen des Lesens auf dem individuellen Niveau des Kindes und ermöglicht so eine zielgerichtete Förderung der Sprachentwicklung – sowohl für Kinder mit deutscher Muttersprache als auch solche mit Deutsch als Zweitsprache.

In Kooperation mit dem Fraunhofer-Institut für Digitale Medientechnologie Oldenburg, der Uni Regensburg sowie der Hochschule Flensburg ist das Start-up Projekt nun auf dem Weg zu einem umfassenden adaptiven Lernprogramm fürs Lesen. Bereits jetzt macht ein KI-gestütztes Diagnose-Tool den Einsatz der App sowie die Nachbereitung für Lehrkräfte noch einfacher.

Hier erfahren Sie mehr über eKidz: www.ekidz.eu.

McElvany: Das sind die Daten aus der Auswertung, die besonders spannend sind, da sie aufzeigen, wo man mit der Förderung ansetzen sollte und wo der Bedarf der Kinder besonders groß ist. Der Anteil der in der IGLU-Studie getesteten Viertklässler*innen, deren Muttersprache Deutsch ist, lag bei fast 75 Prozent. Von den Kindern, bei denen das nicht der Fall ist, haben die meisten, rund ein weiteres Fünftel, Deutsch zumindest vor Schuleintritt gelernt. Ihre Lesekompetenz ist besser als die der Kinder, die Deutsch erst nach Schuleintritt gelernt haben, das sind sechs Prozent.

In diesem Zusammenhang ist wichtig zu wissen, ab welchem Zeitpunkt die Kinder in Deutschland gelebt haben, wann also eine gezielte Sprachförderung überhaupt möglich gewesen wäre. Ein genauerer Blick auf die Verteilung zeigt, dass der Großteil der Viertklässler*innen in Deutschland geboren ist, nämlich etwa 87 Prozent. Von den knapp elf Prozent, die zugewandert sind, war etwa die Hälfte jünger als sechs Jahre. Diese Kinder haben also die Möglichkeit, vor Schulbeginn eine Kita zu besuchen, um frühzeitig Deutsch zu lernen. Entscheidend dafür ist zum einen, dass das Angebot bekannt ist und der Zugang erleichtert wird, durch ausreichend Betreuungsplätze und geringe Kosten. Zum anderen muss aber auch eine gute Sprachförderung in den Einrichtungen erfolgen – das erfordert wirksame Konzepte und ausreichend Personal und wird unterstützt, wenn viele andere Kinder in den Gruppen Deutsch sprechen.

News4teachers: Auf die sprachliche Heterogenität und die damit verbundenen Kompetenzrückstände innerhalb der Schülerschaft reagieren Lehrkräfte laut der Analyse unterschiedlich: Einige nutzen jede Deutschstunde zur Leseförderung, andere fördern einmal im Monat, einige Schulen organisieren außerunterrichtlichen Angebote, andere nicht. Wie lässt sich das erklären?

McElvany: Da die Häufigkeit der außerunterrichtlichen Lesefördermaßnahmen und die gezielte Förderung im Deutschunterricht für Kinder mit Deutsch als Zweit-/Fremdsprache an den Schulen relativ gleich verteilt ist, unabhängig von der Anzahl der Kinder mit nicht-deutscher Familiensprache, wissen wir noch nicht so viel über die genauen Gründe. Bei außerunterrichtlichen Angeboten hängt es möglicherweise vom Engagement der Lehrkräfte ab, während im Unterricht auch der Lehrkräftemangel vor Ort eine Rolle spielen könnte. Wir müssen uns auch die Frage stellen, wie gut wir die Lehrkräfte für diese Aufgabe ausbilden. In der 3. Klasse sprachintegriert mit Kindern zu arbeiten, die kein Deutsch sprechen, ist etwas anderes, als sprachsensibel darauf zu achten, nach und nach einzelne Wörter der Bildungssprache zu vermitteln.

News4teachers: Es ist derzeit also eine Frage des Glücks, ob Kinder die benötigte Förderung in der Schule erhalten. Um die Chancengerechtigkeit im Bildungssystem zu verbessern, hat die Bundesregierung jüngst das Startchancenprogramm aufgelegt, über das Schulen in herausfordernden Lagen zusätzliche Mittel erhalten können, um Bildungsdefizite in der Schülerschaft auszugleichen. Inwieweit bietet das Programm das Potenzial, die Lesekompetenzförderung zu verbessern?

McElvany: Im Bereich der 2. Säule des Startchancenprogramms, dem Chancenbudget für bedarfsgerechte Lösungen zur Schul- und Unterrichtsentwicklung, können Schulen evidenzbasierte Fördermaßnahmen finanzieren. Auch diagnostische Instrumente könnten verstärkt eingesetzt werden. Diese ermöglichen es zu ermitteln, wo Lehrkräfte bei ihren Schülerinnen und Schülern jeweils ansetzen müssen, um sie wirksam zu fördern.
Darüber hinaus ist das Programm auf zehn Jahre angelegt – ein ungewöhnlich langer Zeitraum. In dieser Zeit sollten die Schulen zusätzlich befähigt werden, auf Basis neuer Evidenz wirkungsvolle Fördermaßnahmen selbstständig erkennen und ihre Bemühungen somit aktuell halten zu können.

News4teachers: Wie von Ihnen erwähnt, weisen die Ergebnisse der IGLU-Sonderauswertung darauf hin, wie wichtig die frühkindliche Sprachförderung für die Chancengerechtigkeit ist: Müsste es vor diesem Hintergrund nicht eigentlich auch ein Startchancenprogramm für den Kita-Bereich geben?

McElvany: Das ist eine interessante Frage – ein hervorragender Vorschlag, wenn ich so spontan darüber nachdenke. Mit den Mitteln des Chancenbudgets sollen ja, wie gesagt, vor allem evidenzbasierte Fördermaßnahmen gefördert werden. Überträgt man diesen Ansatz auf den Kita-Bereich, könnte man so die frühkindliche Bildungsqualität erheblich steigern. Zusätzlich soll über die 3. Säule mehr Personal an die Startchancen-Schulen kommen – das wäre auch für den Kita-Bereich von großer Bedeutung. Schließlich bestimmen die personellen Ressourcen, wie intensiv die Erzieher*innen mit jedem einzelnen Kind sprachlich interagieren können und wie viel Förderung in Kleingruppen- oder Eins-zu-eins-Settings möglich ist. Dieses ist besonders in Regionen wichtig, in denen viele Kinder leben, die nicht Deutsch, aber eine gemeinsame andere Sprache sprechen, auf der sie sich unterhalten können. In solchen Fällen reicht es nicht aus, dass die Kinder eine Kita besuchen, um Deutsch zu lernen. Dann brauchen die Erzieher*innen ausreichend Zeit für die sprachliche Förderung und dafür braucht es Personal.

News4teachers: Personal fehlt aktuell auch an den Schulen: Inwiefern können angesichts des Lehrkräftemangels digitale Medien bei der Sprach- und Leseförderung eine Unterstützung bieten?

McElvany: Sicherlich bietet die digital gestützte Förderung eine große Unterstützung, nicht nur im Hinblick auf den Fachkräftemangel, sondern auch aufgrund ihrer Adaptivität. Verbunden mit integrierter Diagnostiksoftware ermöglichen digitale Medien eine gezielte Förderung, die die Kinder weder unter- noch überfordert.

“Wichtig wäre, dass die Förderung beginnt, bevor die Kinder in die Schule kommen”: Professorin Nele McElvany, Geschäftsführende Direktorin am IFS. Foto: IFS

Am IFS beschäftigen wir uns aktuell im Projekt SPEAK mit dieser Thematik. Ziel des Projekts ist es, eine digital gestützte Sprachfördermaßnahme in den Bereichen Wortschatz und Grammatik für Schülerinnen und Schüler in der ersten Klasse zu entwickeln, um möglichst frühzeitig Sprachdefizite auszugleichen. Da die Kinder zu Beginn der Schulzeit noch nicht lesen können, arbeiten wir mit Audiodateien, Tablets und Kopfhörern. Neben der Förderung im Unterricht wollen wir zudem analysieren, welchen Effekt es hat, wenn die Förderung zusätzlich im Ganztag oder der Familie stattfindet. Aktuell befinden wir uns in der Endphase der Pilotstudie, ab September wollen wir die Studie mit überarbeitetem Förderdesign ausweiten und abschließend evaluieren.

News4teachers: Zur Veröffentlichung der IGLU-Sonderauswertung zur Sprachenvielfalt haben Sie umfassende Konzepte für Sprachdiagnostik und Sprachförderung gefordert. Was sollten diese bieten?

McElvany: Wichtig wäre, dass die Förderung beginnt, bevor die Kinder in die Schule kommen. In Hamburg werden Kinder bereits mit viereinhalb Jahren getestet, sodass vor dem Schuleintritt noch ein Jahr für intensive Förderung bleibt. Dies würde ich mir bundesweit einheitlich, flächendeckend und verbindlich im vorschulischen Bereich wünschen. Diese Förderung müsste dann in der Schule fortgesetzt werden, um ein Gesamtsystem zu schaffen, in dem die Ergebnisse der Diagnostik zu Konsequenzen in der Förderung führen.

Nach einer festgelegten Zeit sollten die bisherigen Fördermaßnahmen wiederum überprüft werden, um festzustellen, ob bestehende Kompetenzdefizite ausgeglichen werden konnten oder weitere Maßnahmen notwendig sind. Das klingt aufwändig und teuer, aber ich bin überzeugt, dass dieses Vorgehen nicht nur für die Kinder, sondern auch gesamtgesellschaftlich von Vorteil wäre. Auf diese Weise würden wir weniger junge Menschen im Laufe ihrer Schulzeit und ihres Lebens abhängen, die später ohne Schulabschluss und mit schlechten Aussichten auf den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt blicken. Das lässt nämlich das Potenzial vieler Menschen ungenutzt und kostet ebenfalls viel Geld. News4teachers / Anna Hückelheim, Agentur für Bildungsjournalismus, führte das Interview.

IGLU-Studie: Häufig keine effiziente Klassenführung – Leseunterricht an Grundschulen auch didaktisch optimierbar

 

Die mobile Version verlassen