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Ausgerechnet: Springers „Welt“ beklagt „Massenverblödung“ in Deutschland

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Ein Kommentar von ANDREJ PRIBOSCHEK

Der Bildungsjournalist Andrej Priboschek. Foto. Alex Büttner

DÜSSELDORF. Unter dem Schlagwort „Massenverblödung“ titelt „Welt.de“: „Das gebildete Deutschland schafft sich ab“ – und zeigt dazu, damit es wohl auch der Dümmste versteht, einen Esel. „Wäre er, statt des Adlers, das angemessene Wappentier der Deutschen?“, so fragt die Redaktion. Geht’s eine Nummer kleiner?

Anlass für die polemische Berichterstattung: Rund die Hälfte der Bürger in Deutschland kann die Frage nicht beantworten, was am 13. August 1961 geschah. Dies hat eine aktuelle Umfrage von infratest dimap ergeben. „Bei den unter 30-Jährigen konnten sogar nur 32 Prozent das historische Ereignis richtig einordnen. Der Bildungsnotstand erfasst alle Schichten der Gesellschaft“, heißt es dazu in der „Welt“. Was geschah denn eigentlich am 13. August 1961? Ehrlich gesagt: Der Autor dieser Zeilen musste selbst erst mal googeln, um dann bei Wikipedia zu erfahren: „Der 13. August 1961 ist symbolisch der ‚Tag des Mauerbaus‘. Eigentlich wurde an diesem Tag nur die Sektorengrenze abgeriegelt.“ Aha.

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Nun gut, das Datum nicht parat zu haben, mag eine Bildungslücke sein – aber ist es tatsächlich ein geeigneter Anlass, um festzustellen: „Das Wissen der Deutschen erodiert“? Oder um gleich das Ende der Republik an die Wand zu malen? „Dabei haben wir aus unserer Geschichte gelernt, dass Dummheit tödlich sein kann“, so menetekelt der Autor, der Journalist Reinhard Mohr. Und führt als Beleg dafür, dass „die Nachfahren von Kant und Hegel oft genug doof und ungebildet sind“, eine zwei Jahre alte Studie des Forschungsverbunds SED-Staat an. Die war in der Tat zu bedrückenden Ergebnissen gekommen. So waren 40 Prozent der Jugendlichen prinzipielle Unterschiede zwischen Demokratie und Diktatur nicht bekannt. Keinen Zweifel am totalitären Charakter des Nationalsozialismus hatte nur gut jeder Zweite, und lediglich etwas mehr als die Hälfte der Befragten hielt die alte Bundesrepublik für eine Demokratie. News4teachers hat seinerzeit ausführlich darüber berichtet.

Die weiteren Belege für die Erosion der Bildung in Deutschland sind jedoch dünn. Ein „Lektor und Autor“ wird zitiert, der sagt: „Alles, was wir Allgemeinbildung nennen, ist eine einzige Katastrophe.” Der Mann hat festgestellt, dass 40 Prozent der Jugendlichen im Berliner Brennpunkt-Bezirk Neukölln keinen Schulabschluss haben. Auch kennt er eine dort beheimatete, aus 18 Jugendlichen bestehende Gruppe, von der doch tatsächlich keiner eine Tageszeitung namentlich benennen kann und die sich 2005 (wie alt sind die Jugendlichen denn?) einhellig dafür ausgesprochen habe, den Mohammed-Karikaturisten Westergaard zu köpfen. Dann kommt noch der Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky zu Wort, der weiß: „Je niedriger der Bildungsstand, desto weniger interessieren sich die Jugendlichen für Geschichte.” Keine sonderlich überraschende Erkenntnis.

„Neukölln ist nicht überall, und die Situation in höheren Schulen, etwa in Baden-Württemberg, ist deutlich besser“, räumt der Welt-Autor ein – um dann allerdings eine „junge Gymnasiallehrerin“ aus Stuttgart anonym zu zitieren, die feststellt, dass sich am Gymnasium „die Bildungshintergründe und Lernniveaus” mehr als früher mischen, seit die grün-rote Landesregierung die verbindliche Gymnasialempfehlung abgeschafft habe. Und deswegen, so legt der Autor nahe, verfügten die 15- bis 16-Jährigen zwar über ein „starkes Inselwissen”, doch fehle es ihnen an Zusammenhängen und vertieften Kenntnissen. Belege dafür? Fehlanzeige.

Nochmal zusammengefasst: Das gebildete Deutschland schafft sich ab, weil in Berlin Neukölln 40 Prozent der Jugendlichen keinen Abschluss schaffen, weil Grün-Rot in Baden-Württemberg das Gymnasium freigegeben hat und weil die Hälfte der Deutschen nicht weiß, was am 13. August 1961 geschah? Eine steile These. Fakt ist (und das wissen wir seit PISA): Wir haben in Deutschland unter den 15-jährigen Schülern eine Risikogruppe von ursprünglich rund 25 Prozent und jetzt noch 20 Prozent, die kaum als ausbildungsfähig gelten darf. Fakt ist auch: Wir haben Defizite in der politischen Bildung – die durchaus mit PISA zusammenhängen könnten. Denn seit Erscheinen der ersten PISA-Studie hat die Bildungspolitik die inhaltlichen Schwerpunkte verlagert: hin zu den bei PISA erhobenen Kompetenzen, weg von den sogenannten „soft skills“ (zu denen auch Demokratiefähigkeit gehört). Die Schulen versuchen, mit viel Engagement dagegenzusteuern – siehe die Teilnehmerzahlen an Aktionen wie „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“. Ob das aber unter den Rahmenbedingungen, dazu zählt auch G8, dem gesellschaftlichen Trend zum Desinteresse an Politik (der ja nicht nur Schüler betrifft) entgegenwirken kann, ist zumindest fraglich.

Wir haben, alles in allem, Probleme im Bereich der Bildung, und die sind bekannt. Sie zu lösen erfordert große Anstrengungen, vor allem in den Schulen, aber nicht nur dort. Tatsächlich haben sich in den vergangenen Jahren Fortschritte gezeigt, wie PISA belegt. Alarmismus und Panikmache sind dabei aber nicht hilfreich – schon gar nicht von einem Verlag, der mit der „Bild“-Zeitung selber große Beiträge zur „Massenverblödung“ leistet, die er in der „Welt“ dann beklagt. Aktuelle Beispiele aus bild.de gefällig? „Claudia Effenberg, die neue Wendlerin!“ „Mallorca-Jens – Angst vor Stalkern!“ „Kretsche will Angela Merkel unter die Eisdusche stellen“. Wie wäre es stattdessen mal mit einer Initiative „Bild bildet“, in der dann wichtige Daten der Zeitgeschichte wie eben der 13. August 1961 erläutert werden? Damit ließe sich der Untergang des Abendlandes vielleicht abwenden. So gerade eben noch.

Hier geht es zu dem Beitrag in der “Welt”.

Hier geht es zum Kommentar: “Das Abitur wird verschenkt? Das wüsste ich aber …”

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