Eine Analyse von ANDREJ PRIBOSCHEK.
BERLIN. Als Angela Merkel gestern beim Festakt zum Deutschen Schulpreis die Siegerschule verkündete, sagte sie zunächst nur ein Wort: „Gesamtschule“. Dann legte die Bundeskanzlerin eine Kunstpause von zwei, drei Sekunden ein, bevor sie die Ortsbezeichnung „Barmen“ hinzufügte und für Jubel in dem Wuppertaler Stadtteil sorgte. Wahrscheinlich war das nur dem Versuch geschuldet, ein bisschen mehr Spannung in die Verkündung zu legen. Ein (unbeabsichtigter?) Nebeneffekt des rhetorischen Kniffs aber war, dass Merkel – die ja nun auch die Vorsitzende der CDU Deutschlands ist – damit die Schulform besonders betonte, der die nunmehr als beste Schule Deutschlands geltende Bildungseinrichtung angehört. Gesamtschule eben.
Wer die Bildungsdebatte in Deutschland der letzten 30, 40 Jahre auf dem Schirm hat, weiß: Das ist keine Kleinigkeit. Die Union, ob nun CDU oder CSU, hat integrierte Systeme stets als „Einheitsschulen“ verteufelt (das Wörtchen „sozialistische“ stand dabei immer unausgesprochen davor). Die Kampagne gipfelte 1978 in Nordrhein-Westfalen in einer von der CDU getragenen Volksinitiative „Stop Koop“, die sich gegen „Kooperative Schulen“ richtete – ein damals von der regierenden SPD geplantes Modell, das (bei getrennten Zügen wohlgemerkt!) die die drei Schulformen der Sekundarstufe I vor Ort zu einer schulorganisatorischen Einheit verbinden sollte. Eine „Gesamtschule light“ also. Die Aufregung um das Projekt war enorm; katholische Pfarrer wetterten dagegen von ihren Kanzeln herab. Damals trugen sich mehr als 3,6 Millionen Stimmberechtigte in die Listen ein, was einem Anteil von 29,9 Prozent entsprach. Der Landtag entsprach daraufhin dem Volksbegehren, die „Kooperative Schule“ wurde gekippt – und Ministerpräsident Heinz Kühn (SPD) musste seinen Hut nehmen. Sein Nachfolger wurde der spätere Bundespräsident Johannes Rau (SPD).
Auch heute noch ist den Konservativen in der Union die „Einheitsschule“ ein Dorn im Auge. Für den Fall eines Regierungswechsels 2016 in Baden-Württemberg hat der dortige CDU-Spitzenkandidat Guido Wolf angekündigt, das Bildungssystem völlig umkrempeln. Heißt konkret: Er will die von Grün-Rot eingeführte Gemeinschaftsschule wieder abschaffen. Doch wie will Wolf das begründen, wenn seine Parteivorsitzende eine ähnlich konstituierte Schule gerade zur besten Schule Deutschlands gekürt hat? Das geht kaum zusammen. Und niemand braucht anzunehmen, der Strategin Merkel wäre nicht bewusst gewesen, was sie mit ihrem Auftritt beim Deutschen Schulpreis auslöst. Einen Fingerzeig gab die Kanzlerin selber. Merkel sagte auf der Veranstaltung, Schüler sollten vor allem lernen, „die richtigen Fragen zu stellen und sich mithilfe der Antworten in ein neues Gebiet hineinzubewegen”. Das gilt sicher auch für Parteifreunde.
Zum Bericht: Merkel entdeckt die Bildung wieder – „Es muss mehr Durchlässigkeit geben.“
