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Flüchtlingskinder sofort in Regelklassen aufnehmen? Erfahrungsbericht eines Grundschullehrers: Es geht!

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DÜSSELDORF. Ist die sofortige Integration von Flüchtlingskindern in Regelklassen besser als die verbreitete Einrichtung von sogenannten „Willkommensklassen“? News4teachers hat gestern über eine Studie berichtet, die Berliner Grundschulen untersucht hat und die die Sondergruppen als organisatorisch problematisch und pädagogisch wenig zielführend beschreibt. Lehrerverbände sind allerdings anderer Meinung. „Es ist gut, dass diese Kinder zunächst unter sich sind. In den Regelklassen würden viele von ihnen erst mal nur dasitzen und nichts verstehen“, sagt beispielsweise die nordrhein-westfälische GEW-Chefin Dorothea Schäfer. Jetzt hat sich ein junger Grundschullehrer, Oliver Keßels aus Siegen, zu Wort gemeldet. Er hat Erfahrung mit Flüchtlingskindern, die sofort in den Regelunterricht aufgenommen wurden. Sein Fazit: Es geht – besser, als viele meinen.

Syrisches Flüchtlingskind in der Schule. Foto: UK Department for International Development (CC BY 2.0)

Hier sein Erfahrungsbericht:

„Seit Dezember 2015 arbeite ich als Vertretungslehrer an einer Grundschule in NRW. Schnell erkannte ich die Problematik, die von Kindern mit sehr geringen Deutschkenntnissen ausging. Eine Materialflut sollte auf ein alltägliches Leben in Deutschland vorbereiten – ohne Konzept, dafür aber mit einer Menge Aktionismus. Frei nach dem Motto „viel hilft viel“ wurden unzählige Kopien erstellt und an die Quereinsteiger verteilt. Einen Vorwurf konnte man aber keinem machen. Für eine Willkommensklasse gab es keine Räumlichkeiten,  und die Klassenleitungen waren erstmal auf sich alleine gestellt. Ohne Vorwarnung standen am nächsten Tag wieder zwei neue Kinder an der Türschwelle, sichtlich eingeschüchtert und verwirrt. „Hallo“ sagen, das konnten beide bereits. Als sie dann aber mehr über sich erzählen sollten, war das Gespräch auch wieder schnell beendet.

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Bestürzende Studie: „Willkommensklassen“ für Flüchtlingskinder machen eine Menge Probleme – Lehrkräfte müssen sich durchwursteln

Mit einer freundlichen Geste wurden die zwei ihren neuen Sitzplätzen zugewiesen und spielten fortan im Regelunterricht keine Rolle mehr. War ein Arbeitsblatt beendet, wurde ihnen ein neues vor die Nase gelegt. In großer Dankbarkeit nahmen die Kinder die Blätter an und zeigten viel Enthusiasmus. Dass ihnen eigentlich langweilig war, wollten sie nicht zugeben, oder sie konnten es aufgrund ihrer geringen Sprachkenntnisse einfach nicht – das sei mal dahingestellt.

In Zeiten der Inklusion ist es eine schier unmögliche Aufgabe, alle Schülerinnen und Schüler im Blick zu behalten. Gekoppelt mit der „Flüchtlingskrise“ entstand ein Lehreralltag, der von Hektik und Stress gezeichnet ist. An dieser Stelle möchte ich die tolle Arbeit meines Kollegiums betonen. Es wurde nicht gejammert, sondern zum Wohle aller Kinder noch mehr geleistet (Eigentlich arbeiten LehrerInnen ja nicht –  aha!). Da ich keine Klassenleitung hatte, konnte ich meine Zeit nutzen, die Situation im Sinne aller Beteiligten zu verbessern. Also setzte ich mich an den Schreibtisch und überlegte…

Heute, ein gutes Jahr später, ist einiges anders. Die Schulleitung hat mit mir gemeinsam viel Zeit und Arbeit investiert, um ein Konzept zu entwickeln, welches den Schulalltag verändern konnte. Mir ist klar, dass unsere Überlegungen nicht überall erfolgreich übernommen werden können, aber vielleicht hilft es anderen, die Hoffnung nicht zu verlieren und meine Gedanken weiterzuentwickeln. Deswegen möchte ich dieses Konzept in den nächsten Zeilen vorstellen.

Der größte Aufwand: Material zu finden

Die Materialfindung nahm die meiste Zeit in Anspruch. Natürlich erkannten alle gängigen Schulbuchverlage schnell das Bedürfnis nach DaF-Material, weswegen ich mich vorerst in einem Dschungel aus Büchern, Arbeitsheften und Ordnern wiederfand. Es fehlte eine Struktur. Ich beschloss, die Inhalte nach Themenfelder zu sortieren und suchte bald nach Material zum Thema „Essen und Einkaufen“ oder zum Thema „Schule“.

Daraufhin bekam jede Klasse eine grüne Kiste mit neuen und bekannten Werkzeugen. Darin enthalten, waren ein Ordner mit Arbeitsblättern (auf den ich gleich nochmal eingehen werde), ein sogenannter „Ting!-Stift“ vom Finken-Verlag mit dem dazugehörigen Buch sowie Bildkarten und Arbeitshefte. Die nächste Aufgabe bestand darin, das Material sinnvoll im Alltag einzusetzen. Schülerinnen und Schüler mit geringen beziehungsweise keinen Sprachkenntnissen in Deutsch werden zweimal pro Woche in einer Kleingruppe unterrichtet. Die Gruppen können entweder nach dem Alter oder nach den Deutschkenntnissen eingeteilt werden – soweit die Kapazitäten dies zulassen. Eine Unterrichtseinheit am Anfang der Woche soll die Kinder auf das Material vorbereiten. Das Vokabular soll möglichst anschaulich und spielerisch beigebracht werden. Ein Arbeitsplan greift die Inhalte dann auf, um ein selbstständiges Arbeiten in den Regelklassen zu ermöglichen. Für eine willkommene Abwechslung sorgen der „Ting!-Stift“ sowie die Bildkarten. Hin und wieder sind auch Partnerarbeit auf dem Flur möglich, sehr zur Freude der Kinder.

Regelklassen die bessere Variante

An dieser Stelle möchte ich meine Meinung zu den Willkommensklassen  aufführen. Ich bin davon überzeugt, dass die Unterbringung in den Regelklassen die bessere Variante ist. Zunächst muss mit gleichaltrigen in der Regel Deutsch gesprochen werden. Kindern fällt es bekanntlich auch leichter, Sprachbarrieren untereinander zu überbrücken. Solange ein vernünftiges Konzept vorliegt, können fremdsprachige Kinder dann still und heimlich sinnvoll gefördert werden. Im Mathe- und Sachunterricht kann beispielsweise hin und wieder mitgearbeitet werden, zumindest im Kopf. Man sollte jedoch nicht vergessen, die anderen Kinder auf die Situation vorzubereiten und zu sensibilisieren. Erfahrungsgemäß geschieht dies aber meistens ganz automatisch.

Am Ende der Woche kann die Unterrichtseinheit in den Kleingruppen dazu genutzt werden,  aufgetretene Probleme gemeinsam zu lösen, Erlerntes zu wiederholen und den Arbeitsplan zu reflektieren. Sollte ein Arbeitsplan vorzeitig fertiggestellt werden, kann der Ordner mit Kopien aus der grünen Kiste eingesetzt werden. Sobald die Kinder einen ausreichenden Wortschatz entwickelt haben, kann zum Beispiel mit den Rechtschreibheften von Jahndorf an der Grammatik gearbeitet werden.

Um die KlassenlehrerInnen zu entlasten, muss sich eine Lehrkraft auf die Quereinsteiger und das Material besonders konzentrieren. Das ist zwar nicht immer möglich, aber immerhin eine Möglichkeit. Auch an unserer Schule sind die Ressourcen sehr knapp gehalten, aber noch macht mir die Herausforderung sehr viel Spaß.

Das Konzept selber steht noch am Anfang und es musste bereits viel Aufwand betrieben werden. Trotzdem hat es sich jetzt schon gelohnt. Natürlich sind noch nicht alle Probleme gelöst, aber die Herausforderung ist gerade das Schöne. Ich hatte die Möglichkeit, zur Qualität des Unterrichts beizutragen und bin über die Ergebnisse sehr stolz. Zurzeit überlege ich, wie man die Eltern besser einbinden könnte, weil auch dort die Sprachbarriere zu großen Problemen trotz Dolmetscher führen kann. Vielleicht kann man in Zukunft vereinzelt Eltern gemeinsam mit ihren Kindern in Kleingruppen unterrichten. Wie das Ganze genau aussieht weiß ich auch noch nicht, aber ich bleibe dran…“

Haben auch Sie Erfahrungen im Umgang mit Flüchtlingskindern und möchten diese gerne mit Kollegen teilen? Schreiben Sie uns: andrej.priboschek@bildungsjournalist.de

Morgen bringen wir einen Bericht über die Arbeit in einer “Willkommensklasse”.

KMK tagt in Bremen zum Thema Flüchtlingskinder: Lehrkräfte sind knapp – Geld auch

 

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