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Frankfurts Grundschulleitungen schreiben Brandbrief: Flüchtlingskinder, Inklusion, Erziehungsprobleme – aber kein Personal. Es geht nicht!

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FRANKFURT/MAIN. In ganz Deutschland werden die Grundschullehrkräfte knapp. Besonders krass ist die Situation offenbar in Frankfurt am Main. Zwei Drittel der Grundschulleitungen der Main-Metropole haben jetzt einen gemeinsamen Brandbrief an Hessens Kultusminister Lorz geschrieben. Tenor: Die Aufgabenflut ist mit so wenig Personal nicht zu bewältigen!

Mit dem Brandbrief wollen die Schulleitungen aufrütteln. Foto: herval / flickr (CC BY 2.0)

Wie prekär die Situation ist, war schon zu Schuljahresbeginn erkennbar. „Stellen Sie sich vor, Sie bringen Ihr Kind zur Einschulung – und kein Lehrer ist da. Unvorstellbar? Leider nicht.“ So berichtete die „Frankfurter Neue Presse“ im September von einem Fall an einer Grundschule in der Main-Metropole, bei der eine von vier neuen ersten Klassen bei der Einschulungsfeier zunächst von niemandem in Empfang genommen wurde. Eine dann doch erscheinende, kurzfristig eingesprungene „Fachkraft“ (offenbar keine Lehrerin) wusste laut Bericht dann aber nicht viel mit den Schülern anzufangen.

Und so sei es die ganze erste Woche weitergegangen, so heißt es. Die nächsten Tage „liefen organisatorisch ähnlich chaotisch ab. Vertretungskräfte wurden versprochen, doch die tauchten ebenfalls nicht auf. Die Kinder standen morgens nach dem Klingelzeichen erst einmal hilflos auf dem Schulhof herum, bevor sich irgendwann eine Lehrkraft ihrer annahm.“ Die Vorsitzenden des Stadtelternbeirats wusste damals schon zu berichten: kein Einzelfall. In ganz Frankfurt fehlen nach ihren Worten Grundschullehrer.

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Nicht nur in Frankfurt, so lässt sich ergänzen: Bundesweit werden die Grundschullehrkräfte knapp. Berlin beispielsweise schaltete schon Zeitungsanzeigen in Österreich und in den Niederlanden, um Pädagogen für die Primarstufe anzuwerben. In der hessischen Metropole allerdings scheint die Personalsituation an den Grundschulen mittlerweile in Richtung Katastrophe abzugleiten – Frankfurts Grundschulleitungen schlagen jetzt Alarm. 59 Schulleiterinnen und Schulleiter sowie 18 Konrektoren, die zusammen zwei Drittel der Grundschulen der Stadt repräsentieren, haben jetzt gemeinsam einen Brandbrief an den hessischen Kultusminister Alexander Lorz (CDU) geschrieben.

Beispiellos: 53 Lehrer haben beim Kultusministerium eine Überlastungsanzeige eingereicht – die meisten Brandbriefe kommen aus Grundschulen

Tenor: Es geht so nicht mehr! In dem dreiseitigen Brief schildern die Pädagogen die Lage an den Frankfurter Grundschulen drastisch: bis zu 25 Kinder in einer Klasse, von denen mitunter 20 ohne ausreichende Deutschkenntnisse eingeschult worden seien. Die Familien der Kinder kämen aus verschiedenen Kulturkreisen, ihre Elternhäuser seien extrem heterogen. Viele würden elterliche Aufgaben wie die Erziehung zu Umgangsformen, die medizinische Versorgung und die Ernährung an die Schulen abtreten. Daraus erwachse für die Lehrer „eine kaum zu bewältigende Arbeitsbelastung sowohl in zeitlicher als auch in psychischer Dimension“, schreiben die Schulleiter laut „Hessenschau“, der der Brief vorliegt.

Nun drohe alles noch schlimmer zu werden, weil es an Lehrern fehle. Und das ausgerechnet jetzt, da die Flüchtlingskinder in die Schulen integriert werden sollen und immer mehr Klassen inklusiv arbeiten, also auch Kinder mit Behinderungen dazugehören. “Guter Unterricht im herkömmlichen Sinn ist unter solchen Bedingungen nur noch unter erheblichen Abstrichen umzusetzen”, so fassen die Schulleitungen zusammen. Gerade Kinder, die es besonders bräuchten, könnten nicht in ausreichendem Maße gefördert werden.

Eine Grundschullehrerin berichtet von ihrem Alltag, der sie überlastet: „Man wird krank. Körperlich und seelisch“

Die Situation sei für Lehrer und Schulleiter nicht mehr tragbar, sagt Benedikt Gehrling, Sprecher der Frankfurter Grundschulleiter, gegenüber der „Frankfurter Rundschau“. „Und es ist auch für die Kinder unbefriedigend. Wir können ihnen nicht so gerecht werden, wie wir uns das wünschen.“ In der Stadt sei „die Herausforderung exorbitant“. In den Schulen hätten tatsächlich oft mehr als 80 Prozent der Schüler einen Migrationshintergrund; viele dieser Kinder kämen ohne ausreichende Deutschkenntnisse in die Schule. Dazu kämen schwer traumatisierte geflüchtete Jungen und Mädchen und behinderte Kinder mit speziellen Bedürfnissen. „Die Probleme sind so multipel, für sie brauchen wir eine bessere Versorgung“, so wird Gehrling zitiert.

Viele Seiteneinsteiger eingestellt

Das Kultusministerium hat tatsächlich bereits reagiert – und verstärkt sogenannte Seiteneinsteiger eingestellt. „Derzeit werden Personen eingesetzt, die nicht als Lehrer ausgebildet sind”, sagt Gehrling laut Bericht. Sie kämen aus allen möglichen Berufen, vom Theologen bis zum ehemaligen Lufthansa-Mitarbeiter. „Da sind tolle Leute dabei, aber es wäre uns schon lieber, sie wären für die Aufgabe ausgebildet.“ Dem Schulleiter zufolge müssten Anreize geschaffen werden, um qualifiziertes Personal in die Grundschulen zu bekommen. Mehr Gehalt zum Beispiel. Eine höhere Besoldungsstufe für Grundschullehrer also.

Das Kultusministerium in Wiesbaden sieht aber in einer höheren Besoldung nicht die Lösung. „Das Problem ist eher, dass nicht genug Personal vorhanden ist“, so erklärt ein Sprecher gegenüber der „Hessenschau“. Kurzfristig seien an Hessens Grundschulen viele neue Stellen geschaffen worden, unter anderem knapp 2.000 für die Integration geflüchteter Kinder und Jugendlicher. Deshalb sei der Arbeitsmarkt zurzeit leer gefegt. Das Kultusministerium hat deshalb aktuell pensionierte Lehrkräfte angeschrieben – und lockt sie mit höheren Bezügen als zu ihrer regulären Dienstzeit. Für die übrigen Grundschullehrkräfte bleibt es bei A12. Heißt: Das Grundschullehramt wird auf lange Sicht nicht attraktiver. Außer für Rentner. Agentur für Bildungsjournalismus

Lehrermangel an Grundschulen: Kultusminister Lorz lockt jetzt Pensionäre – mit höherem Gehalt als im regulären Dienst

 

Parteien streiten über Lehrermangel

WIESBADEN. Der Lehrermangel an hessischen Grund- und Förderschulen ist nach Einschätzung der SPD-Landtagsfraktion das Ergebnis von Versäumnissen der schwarz-grünen Regierung. Der bildungspolitische SPD-Sprecher Christoph Degen erklärte am Mittwoch, der Lehrermangel sei im Rhein-Main-Gebiet angekommen. Deswegen könne ihn die Landesregierung nun nicht mehr verleugnen.

Anlass für die harsche Kritik Degens ist nach dessen Aussage auch ein «Brandbrief» Frankfurter Schulleiter zur Situation an ihren Schulen. Degen erklärte, dass hessenweit rund 300 Lehrer fehlten und prophezeite: «Wir gehen davon aus, dass das noch zunimmt.» Ursache für die Misere ist laut Degen, dass die Landesregierung zuerst die Lehrerausbildung auf Sparflamme heruntergefahren und dann zu spät reagiert habe, als sich der Engpass abzeichnete. Zudem mache die schlechte Besoldung den Beruf des Grundschullehrers in Hessen unattraktiv.

In der Vergangenheit habe die Landesregierung alle Initiativen der SPD, um Lehrer aus- und weiterzubilden, abgelehnt. Die vielen Überlastungsanzeigen aus den Grundschulen seien in den Wind geschlagen worden, warf Degen dem Kultusministerium vor. «Zu wenig Lehrer, zu große Klassen und zu wenig Gehalt», fasste er zusammen.

«Jetzt die Flüchtlingsbeschulung dafür verantwortlich zu machen, ist eine ganz feige Ausrede für eklatante Versäumnisse und ein bildungspolitischer Offenbarungseid», sagte der SPD-Abgeordnete. Die SPD hat einen dringlichen Berichtsantrag gestellt und fordert von der Landesregierung Aufklärung über die aktuelle Situation und darüber, welche Maßnahmen gegen den Lehrermangel ergriffen werden.

Kultusminister Alexander Lorz (CDU) reagierte umgehend auf die Vorwürfe der SPD und stellte ein dreistufiges Maßnahmenpaket vor, um mehr Lehrer für Grund- und Förderschulen zu gewinnen. Neben der bereits angekündigten Reaktivierung von Pensionären sollen Gymnasial-, Haupt- und Realschullehrer dafür gewonnen werden, an Grund- und Förderschulen zu unterrichten. Außerdem will Beuth die Ausbildungskapazitäten für angehende Lehrer an Hessens Hochschulen ausweiten. Die derzeit voraussehbare Lücke betrage zwischen 200 und 300 Lehrern. Das entspreche rund zwei Prozent des gesamten Stellenumfangs im Grundschulbereich.

Kultusminister weist Vorwürfe zurück

Die Vorwürfe der SPD wies Lorz zurück. Dass es nun zu wenig Lehrer gebe, liege daran, dass die Schülerzahl in den vergangenen 18 Monaten erheblich gestiegen sei. «Hessen hat seitdem rund 25.000 Schüler zusätzlich aufgenommen, die als Zuwanderer oder Flüchtlinge nach Hessen gekommen sind und die in der Regel über keine oder nur geringe Kentnisse der deutschen Sprache verfügen», teilte der Kultusminister mit. Diese Entwicklung sei vor zwei Jahren nicht absehbar gewesen.

Als «wohlüberlegtes und sorgfältig ausgearbeitetes» Maßnahmenbündel bezeichnete Armin Schwarz, bildungspolitischer Sprecher der CDU-Fraktion, die von Lorz angekündigten Maßnahmen. Die Kritik der SPD unterstreiche lediglich die «Plan- und Ideenlosigkeit der Opposition, die zu Regierungszeiten nicht einmal zur Schaffung der Stellenvoraussetzungen für 85 Prozent der erforderlichen Lehrkräfte» fähig gewesen sei, sagte er. Gabi Faulhaber von den Linken stellte fest, dass der Lehrermangel nicht neu sei. Bisher habe der Kultusminister jedoch die «vielen Brandbriefe» von Darmstädter und Frankfurter Grundschulen ignoriert. dpa

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