„Wir haben extreme Sorgen in Bezug auf die Grundschule“, sagt der renommierte Bildungsforscher Jörg Ramseger einem Bericht des Berliner „Tagesspiegels“ zufolge. Ramseger hat einen Appell der „Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft“ (DGfE) mitverfasst, der vor den „unabsehbaren Folgen“ des verstärkten Quereinstiegs warnt. Quereinsteiger dürften auf keinen Fall bei Erstklässlern eingesetzt werden, da für die Alphabetisierung von Kindern fundiertes Fachwissen nötig sei. Und der Quereinstieg dürfe nicht zum Normalfall werden.
Verantwortlich für den Appell zeichnet die Kommission „Grundschulforschung und Pädagogik der Primarstufe“ der DGfE, der rund 80 Professorinnen und Professoren und Hunderte von wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern angehören, die an den bundesdeutschen Universitäten und Pädagogischen Hochschulen maßgeblich die Ausbildung der Grundschullehrerinnen und Grundschullehrer verantworten.
Die Kommission nimmt dem Papier zufolge „mit großem Unverständnis die derzeitige Praxis zur Kenntnis, dass in vielen Bundesländern eine sehr große Anzahl von Personen OHNE entsprechende fachliche, fachdidaktische und vor allem pädagogisch-psychologische Qualifikation als sogenannte Seiten- und Quereinsteiger in den Schuldienst der Länder eingestellt und sogar dauerhaft übernommen wird.“ Gleiches gelte für Studierende, die ihr Studium noch nicht beendet haben, aber gleichwohl an Grundschulen bereits eigenverantwortlich unterrichteten.
„Über diese Praxis sind zunehmend Personen im Schuldienst der Grundschule tätig, die kein wissenschaftliches Lehramtsstudium der entsprechenden Schulform und kein Referendariat abgeschlossen haben. Zwar unterscheiden sich die Modalitäten für die sogenannten Quer- und Seiteneinsteiger je nach Bundesland und Schulform, im Grundschulbereich ist jedoch aufgrund des eklatanten Lehrkräftemangels diese Praxis besonders häufig anzutreffen – mit unabsehbaren Folgen für den zukünftigen Bildungserfolg der Kinder“, so heißt es.
“Der Forschungsstand ist eindeutig”
Die Wissenschaftler betonen: „Die Grundlagen für eine berufliche Qualifikation von Lehrerinnen und Lehrern können nur durch ein entsprechendes Studium gelegt werden. Der Forschungsstand dazu, was die Professionalität von Lehrkräften und besonders von Grundschullehrkräften ausmacht, ist eindeutig. Professionelle Grundschullehrkräfte benötigen sowohl fundierte fachwissenschaftliche und fachdidaktische Kompetenzen in den grundschulrelevanten Unterrichtsfächern als auch eine bildungswissenschaftliche Ausbildung mit grundschulpädagogischen und grundschuldidaktischen Schwerpunkten.“
Die spezifischen inhaltlichen Anforderungen an den Grundschullehrberuf ergäben sich aus der Tatsache, dass die Grundschule als erste Schule im Bildungssystem und als Schule für alle Kinder für die grundlegende Bildung verantwortlich ist. „Grundlegende Bildungsprozesse anzuregen, zu begleiten und zu unterstützen, Kinder in die sogenannten Kulturtechniken einzuführen und dabei allen Kindern mit ihren je eigenen und höchst unterschiedlichen Lernvoraussetzungen gerecht zu werden, stellt sehr hohe Anforderungen an den Grundschullehrberuf. Gerade die gestiegenen Herausforderungen an einen im umfassenden Sinne inklusiven Unterricht erfordern besondere professionelle Kompetenzen.“
Aus der Erkenntnis heraus, dass die Professionalität von Lehrkräften besonders bedeutsam für Lernprozesse von Kindern im jungen Alter sei, hätten in den letzten Jahren die meisten Bundesländer die entsprechenden Konsequenzen gezogen und das Lehramt für Grundschulen als ein zehnsemestriges Studium angelegt. Mit dem Referendariat beträgt die gesamte Ausbildungszeit für diesen voraussetzungsreichen Beruf damit sechs bis sieben Jahre, je nach Bundesland. „Die hierdurch erreichten Qualitätsstandards werden durch die Einstellung von nicht adäquat ausgebildeten Personen massiv konterkariert“, erklären die Bildungsforscher.
„Ein vergleichbares Vorgehen beispielsweise in der Medizin würde als vollkommen verantwortungslos beziehungsweise als undenkbar bezeichnet. Die Kommission betrachtet die Einstellung von Seiten- und Quereinsteigern deshalb mit großer Beunruhigung und sieht in dieser Entwicklung sowohl einen erheblichen Rückfall hinter die geltenden Standards für die Qualifikation von Grundschullehrkräften als auch eine massive Beeinträchtigung der Professionalität im System Grundschule. Für Kinder am Anfang ihrer Bildungslaufbahn, für ihre Bildung und Erziehung, können daraus erhebliche negative individuelle und gesellschaftliche Folgen resultieren.“
Weiter heißt es: „Die Kommission fordert deshalb alle in der Bildungspolitik verantwortlichen Personen in den Bundesländern dazu auf, ihrem Auftrag gerecht zu werden und dafür zu sorgen, dass die scheinbar notwendige Einstellung von Seiten- und Quereinsteigern zwingend mit Maßnahmen verknüpft wird, die die Professionalität aller dauerhaft in Grundschulen als Lehrkraft tätigen Personen sicherstellt. Dies kann qualitativ nur durch eine professionsbezogene Nachqualifizierung und quantitativ durch entsprechend hochwertige Weiterbildungsmaßnahmen erfolgen, in ‚Schnellkursen‘ können keine wissenschaftlichen und universitären Standards des Grundschullehrberufs erreicht werden.“
Die Äquivalente eines Vollzeitstudiums in den Disziplinen der Grundschulpädagogik und der Fachdidaktiken der grundschulrelevanten Unterrichtsfächer müssten erfüllt sein – je nach den Vorgaben der jeweiligen länderspezifischen Lehrerausbildungsgesetze. „Zusätzlich sind längerfristige Maßnahmen wie der Ausbau von Studienplätzen zu ergreifen, um zukünftig den Bedarf mit grundständig und vollständig ausgebildeten Lehrkräften decken zu können. Hierfür wird dringend in jedem Bundesland eine vorsorgende Personalbedarfsplanung, einschließlich der Lehrerbildnerinnen und Lehrerbildner im Hochschulbereich, benötigt“, so betont die Kommission. bibo / Agentur für Bildungsjournalismus
