BERLIN. Die aktuell verhandelte Klage einer Bremer Schulleiterin gegen die Inklusion (News4teachers berichtete) macht einmal mehr deutlich: Es gibt massive Probleme bei der Umsetzung in der pädagogischen Praxis. In jüngster Zeit werden Stimmen lauter, den Prozess – ähnlich wie die Einführung von G8 – rückabzuwickeln. Warum das nicht geht, macht der renommierte Erziehungswissenschaftler und Inklusionsexperte Prof. Hans Wocken in einem dreiteiligen Gastbeitrag auf News4teachers deutlich. Im folgenden ersten Teil widmet er sich dem Vorwurf, der gemeinsame Unterricht von behinderten und nicht-behinderten Schülern sei einer linken Gleichheits-Ideologie entsprungen, bedeute also “Kommunismus für Schulen”. Falsch – sagt Wocken.
„Inklusion ist Kommunismus für Schulen!“
Das Bonmot „Inklusion ist Kommunismus für Schulen!“ stammt von dem ehemaligen Kultusminister von Mecklenburg-Vorpommern Matthias Brodkorb (2012, 21). Nicht allein ein sozialdemokratischer Kultusminister, sondern zahlreiche Inklusionskritiker und -gegner der Inklusion verdächtigen die inklusive Pädagogik der sozialistischen Gleichmacherei. Wie schon zuvor in den bildungspolitischen Auseinandersetzungen zwischen der Gesamtschule und dem gegliederten Schulwesen, so werden nun ein inklusives Bildungssystem, die inklusive Schule und der inklusive Unterricht von der konservativen Inklusionskritik als „Einheitsschule“ und „Einheitsunterricht“ kritisiert, an den Pranger gestellt und bekämpft. Der Popanz der „Einheitsschule“ und des „Einheitsunterrichts“ wird mit antisozialistischen Ressentiments ausstaffiert und dann als dämonisches Schreckgespenst an die bildungspolitische Front geschickt, um allen braven Bürgern die Lust auf Inklusion gründlich zu vermiesen. Ist Inklusion etwa pädagogischer Kommunismus?
1.. „Inklusion ist eine Gleichheitsreligion!“
Der Wert „Gleichheit“ stößt vielfach auf spontane Ablehnung. In konservativen Kreisen löst das Wort Gleichheit nicht selten reflexartig unerfreuliche, aversiv geladene Assoziationen aus: Gleichschaltung, Homogenisierung, Vereinheitlichung, Uniformierung nach DIN-Normen, Anpassung, Gängelung, Totalitarismus und andere Scheußlichkeiten. Einige Beispiele:
- Das neue Parteiprogramm der CSU „Gute Ordnung“ bedient sich zwecks politischer Abgrenzung eines traditionsreichen Kampfbegriffs und wettert gleich auf der ersten Seite gegen „sozialistische Gleichmacherei“ (CSU 2016, 1). Wenige Seiten später wird indessen dann eine verbindliche „Leitkultur“, eine Art bayerischer Sozialismus, angepriesen.
- In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) attestiert der Redakteur Christian Geyer der Inklusion „eine unglaubliche Gleichmacherei“ (2014, 1). In ihrer Bereitschaft, alle empirischen Unterschiede zu ignorieren, zeige sich „der utopische, weltfremde Charakter einer Heilsidee, die über keinen positiven Begriff von Ungleichheit verfügt.“ „Die Pointe der Inklusionssemantik liegt darin, jeden Unterschied als Ungleichheit zu deuten und jede Ungleichheit als Ungerechtigkeit“ (Geyer 2014, 1).
- Schließlich reitet Josef Kraus, der längjährige Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, eine scharfe Attacke gegen die Gleichheitsideologie, die an Derbheit und holzschnittartiger Polarisierung ihresgleichen sucht. Nach 30 Jahren Präsidentschaft hält Josef Kraus am 17. Mai 2017 eine Abschiedsrede, die als eine Art Testament seiner bildungspolitischen Weltanschauung gelten kann. Kraus bezichtigt die Bildungspolitik zehn theoretischer Dogmen, von denen hier nur das erste „Dogma“ ausführlich zitiert sei: „Ein erstes Dogma ist der Egalitarismus. Das ist die Ideologie, dass alle Menschen, Strukturen, Werte, Inhalte, ja sogar alle Geschlechter […] gleich bzw. gleich gültig seien. Das ist auch die Ideologie, dass es keine verschiedenen Schulformen, keine verschiedenen Begabungen, keine verschiedenen Fächer sowie keine bestimmten Werte, keine Leitkultur geben dürfe. Es scheint zu gelten: Was nicht alle können, darf keiner können. Was nicht alle haben, darf keiner haben. Was nicht alle sind, darf keiner sein. Schulpolitisch setzt sich diese ‘heilige Gleichheit’ in Heiligsprechungen bestimmter egalisierender Institutionen und Regelungen um: Gesamtschule, Inklusion, keine Noten, kein Sitzenbleiben, Abitur für alle, Gymnasium für alle“ (Kraus 2017b, 14). Kraus beschließt sein bildungspolitisches Vermächtnis mit einem Motto, das weder dem Philologenverband noch seinem Präsidenten zur Ehre gereichen dürfte: „Freiheit statt Gleichheit!“
- Schließlich bekräftigt auch der Gymnasiallehrer Felten, dass Inklusion „eine neue Religion der Gleichstellung“ sei (Felten 2017, 104).
Mir ist unklar, ob die Inklusionsopponenten den menschen- und verfassungsrechtlichen Begriff der Gleichheit wirklich nicht verstehen oder ob sie wider besseres Wissen und in übelwollender, diskreditierender Absicht sich des Kampfbegriffs „Gleichmacherei“ bedienen. Dabei ist die Sache eigentlich sehr, sehr einfach: Gleichheit bedeutet nichts Anderes als gleiche Rechte für alle! Alle Freiheiten, die die Menschenrechtskonventionen, das Grundgesetz und die Verfassungen den Bürgern zusprechen und garantieren, gelten ausnahmslos für alle Menschen – unabhängig von Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat, Herkunft, Glauben, religiösen oder politischen Anschauungen. Das ist das Erbe der europäischen Aufklärung, und so steht es auch im Artikel 3 des Grundgesetzes. Dieser höchst einfache und unmissverständliche Gehalt des rechtsstaatlichen Begriffs „Gleichheit“ kann durchaus schon Kindern in der Grundschule vermittelt werden, und sollte eigentlich allen mündigen Staatsbürgern, allen Parteizentralen, allen Redaktionsstuben und selbstverständlich auch allen Lehrerverbänden vollauf präsent sein.
Für Inklusion ist „Gleichheit“ ein hoher Wert. Inklusion fordert die Gleichheit aller Menschen und damit auch von Menschen mit und ohne Behinderungen ein. Und Inklusion fordert, die Verschiedenheit von Menschen nicht zum Anlass von Spaltung, Separation, Ausgrenzung, Herabsetzung und Hierarchisierung zu nehmen, sondern der inklusiven Leitidee „Gemeinsamkeit in Vielfalt“ zu folgen. Wegen der herausragenden Bedeutung der menschenrechtlich zu verstehenden Gleichheit will ich mit einigen Sentenzen für ein angemessenes Verständnis von Gleichheit werben und deutlich gegen die populistische und polemische Verunglimpfung als „Gleichmacherei“ Stellung beziehen:
- „Der Mensch fängt nicht beim Abitur an!“ – so lautet eine unerwartete Tröstung des Gymnasiallobbyisten Kraus. Wohl wahr! Das gleiche Menschsein aller Menschen beginnt bereits bei der Geburt: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“, heißt es in Artikel 1 der Erklärung der allgemeinen Menschenrechte.
- Der Artikel 3, Abs. 1 des GG bestimmt: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“
- Der Artikel 3, Abs. 3 des GG fährt fort: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“
- Das Wahlrecht ist ein exzellenter Ausdruck demokratischer Gleichheit. Die Stimmen aller Wahlbürger zählen ohne jegliche Ausnahme gleich viel.
- Nach neuerem Recht sind eheliche und uneheliche Kinder gleichgestellt.
- Der menschenrechtliche Gleichheitsbegriff meint nicht allein gleiche Rechte, sondern auch gleiche Menschenwürde. Aus menschenrechtlicher Sicht ist der Erzbischof von Köln nicht würdiger als der Penner unter der Hamburger Lombardsbrücke, der Mitarbeiter in einer Beschützenden Werkstätte und der bayerische Ministerpräsident teilen sich die gleiche Menschenwürde, und ein Sonderschüler steht an Menschenwürde dem Vorsitzenden des Philologenverbands in nichts nach.
- Aus theologischer Perspektive weist das biblische Konstrukt der Gottebenbildlichkeit darauf hin, dass alle Menschen in gleicher Weise Ebenbilder Gottes sind.
Mit diesen beispielhaften Hinweisen auf das absolute Erfordernis demokratischer und menschenrechtlicher Gleichheit mag es sein Bewenden haben. Gleiche Menschenrechte für alle ist nicht „Gleichmacherei“. Menschenrechtliche Gleichheit meint Gleichheit der Freiheiten und Gleichheit der Menschenwürde. Gleichheit bezieht sich gemäß Artikel 1 des Grundgesetzes auf gleiche Würde und Rechte, nicht auf einen Uniformismus von Besitz, Kleidung, Meinungen, Kulturen, Begabungen und anderem mehr. Gleichheit ist nicht der Feind der Freiheit, sondern der Garant der Freiheit aller! Gleichheit ist genau besehen ein Freiheitsrecht! Wer für Freiheit votiert, ohne die gleiche Freiheit für alle einzufordern, negiert die gleiche Menschenwürde aller Menschen, trägt die rechtsstaatliche Ordnung zu Grabe und ruft einen sozialdarwinistischen Staat ins Leben, in dem das Recht der Stärkeren und Reichen gilt und Gewalt, Rassismus, Sexismus, Unterdrückung und Ausbeutung regieren.
Die Geschichte der Menschheit lehrt, dass Benachteiligung, Unterdrückung und Misshandlung von Menschen – von Frauen, von Juden, Flüchtlingen, Indianern u.a. – immer mit der Verneinung und Aberkennung ihrer Gleichheit beginnen. Ungleichheit ist ein Urgrund von Ungerechtigkeit und Unrecht. Wenn Flüchtlinge etwa im öffentlichen Raum in pauschalierender Weise als Terroristen, Gewalttäter, Sozialräuber, Vergewaltiger oder „Asyltouristen“ (Markus Söder) hingestellt werden, dann werden sie für massive Vorurteile, generalisierende Verdächtigungen und rigorose Abschiebungen freigegeben. Pogrome gegen „Andersartige“ fangen immer mit ihrer Dehumanisierung, ihrer Entmenschlichung, ihrer Kategorisierung als Ungleiche an. Inklusion dagegen fängt mit dem Respekt vor der gleichen Menschenwürde aller an. Ohne menschenrechtliche Gleichheit ist weder eine demokratische noch eine menschliche noch eine inklusive Gesellschaft denkbar. Wer der menschenrechtlichen Ungleichheit das Wort redet, propagiert Sozialdarwinismus und legitimiert das Vorrecht der Reichen und Starken über die Armen und Schwachen.
Wenn die Diskreditierung der Inklusion als „Gleichheitsreligion“ wirklich rechtens wäre, könnte mit gleichem Recht der Ideologie des gegliederten Schulwesens eine „Apartheidsreligion“ unterstellt werden. Es erscheint mir intellektuell einigermaßen verwegen, das menschen- und verfassungsrechtliche Gleichheitsgebot als „Gleichmacherei“ misszuverstehen. Was von manchen Inklusionsopponenten gegen eine vermeintlich „gleichmacherische“ Inklusion vorgebracht wird, kommt bedauerlicherweise über das Niveau eines platten, vulgären Antisozialismus nicht wesentlich hinaus.
Teil zwei des Beitrags erscheint auf News4teachers in den nächsten Tagen.
Hans Wocken ist gelernter Sonderschullehrer und hatte von 1980 bis 2008 an der Universität Hamburg eine Professur für Lernbehinderten- und Integrationspädagogik inne. Er war ein Pionier der integrativen Pädagogik und hat die schulische Integration bzw. Inklusion von Anfang an mitgestaltet und mitgeprägt. In den 80er Jahren initiierte er in Hamburg zwei Schulversuche zur Integration und hat sie wissenschaftlich begleitet. In der Inklusionspädagogik vertritt er eine „dialektische“ Position. Inklusionspolitik und -pädagogik fordern u.a.
- eine Balance von Philosophie und Pragmatismus;
- eine Balance von Freiheit und Gleichheit;
- eine Balance von Vielfalt und Gemeinsamkeit;
- eine Balance von Anpassung der Schule und Anpassung der Kinder;
- eine Balance von gemeinsamen und individuellen Lernsituationen;
- eine Balance von angeleitetem und selbstgesteuerten Lernen.
Die drei Beiträge sind Textauszüge aus: Wocken, Hans: CONTRA Inklusionskritik. Eine Apologie der Inklusion. Hamburg (Feldhaus) 2018.
Homepage: www.hans-wocken.de
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