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Ex-Förderschüler verklagt NRW wegen entgangener Bildungschancen – Gutachterin sieht Fehler bei Behörden

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KÖLN. Er sieht sich zu Unrecht auf der Förderschule und will wechseln. Erfolglos. Jetzt, Jahre danach, verklagt der junge Mann das Land NRW. Eine Gutachterin bezweifelt vor Gericht, dass bei ihm tatsächlich eine geistige Behinderung bestand. Das Urteil dürfte wegweisend für die juristische Aufarbeitung des früher geltenden Förderschulzwangs für behinderte Kinder sein – sollte der Kläger Recht bekommen, könnte auf die Bundesländer eine Klagewelle zurollen.

Wie wird das Gericht entscheiden?                                                                 Foto: Markus Daams / flickr / CC BY 2.0

Im Schadenersatzprozess eines früheren Förderschülers gegen das Land Nordrhein-Westfalen hat eine Gutachterin den Schulaufsichtsbehörden schwere Versäumnisse vorgeworfen. Beim Schulwechsel von Bayern nach NRW im Jahr 2008 hätte es für den Schüler ein «ordentliches Diagnoseverfahren» mit Intelligenz-Überprüfung, Einschätzung der Lernentwicklung und einer Prognose geben müssen, sagte die Erziehungswissenschaftlerin Irmtraud Schnell vor dem Kölner Landgericht. Dann wäre nach ihrer Auffassung auch deutlich geworden, dass gar kein spezieller Förderbedarf wegen geistiger Behinderung bestanden habe.

Der heute 21 Jahre alte Nenad Mihailovic hatte bis zu seinem 18. Lebensjahr eine Förderschule für geistige Behinderung besucht, zunächst in Bayern, dann in Köln. Aus seiner Sicht hatte er zu Unrecht an der Schule in Nordrhein-Westfalen bleiben müssen. Dadurch seien ihm Bildungschancen entgangen. Mihailovic holte später als einer der Klassenbesten den Hauptschulabschluss auf einem Berufskolleg nach. Im Gespräch sagte er am Rande der Verhandlung, er strebe nun eine Ausbildung als Einzelhandelkaufmann an.

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“Ohne Begründung, ohne Diagnose”

Die Sachverständige sagte, in Bayern habe man lediglich von einer «momentanen» leichten geistigen Behinderung gesprochen. In NRW sei 2008 beim Schulwechsel eine Überprüfung eigentlich rechtlich verpflichtend gewesen. Spätestens 2011/12 hätten Schule oder Aufsichtsbehörden eingreifen müssen, kritisierte Schnell. Damals sei «ohne Begründung und ohne Diagnose» zusätzlich zur fragwürdigen Bewertung einer geistigen Behinderung ein besonderer Förderbedarf im Bereich «emotional-soziale Entwicklung» attestiert worden.

Die Anwältin des beklagten Landes betonte, die gut ausgebildeten Lehrkräfte hätten regelmäßig in den Zeugnissen Einschätzung vorgenommen. Die Sonderschule habe der Junge bis zum 18. Lebensjahr besuchen können, während er auf einer Regelschule nach Ansicht der Pädagogen «nicht förderlichen» Einflüssen ausgesetzt gewesen wäre und schon mit 16 Jahren hätte abgehen müssen.

Baden-Württemberg hat 2015 als letztes Bundesland die Sonderschulpflicht im Rahmen der Inklusion abgeschafft. Seitdem stellen alle Länder es den Eltern beeinträchtigter Kinder schon frei, an welcher Schule sie ihr Kind anmelden – im Prinzip jedenfalls. Aufgrund von fehlenden Kapazitäten an Regelschulen werden in Deutschland noch immer Kinder mit Förderbedarf gegen den Willen ihrer Eltern an Sonderschulen geschickt. Das dürfte schwieriger werden, sollte der Kläger im aktuellen Fall Recht bekommen – müssen die Behörden doch dann Schadenersatzklagen fürchten. Ohnehin droht dann eine Klagewelle, wurde in den vergangenen Jahrzehnten doch durchgängig im Schnitt jeder 20. Schüler auf eine Förder- bzw. Sonderschule geschickt. News4teachers / mit Material der dpa

News4teachers-Dossier – gratis herunterladbar: „Das Inklusions-Chaos”

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