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Warum wir für eine erfolgreiche Inklusion die multiprofessionelle Schule brauchen: das Beispiel Ergotherapie

KARLSBAD. Einige Bundesländer verzeichnen einen rückläufigen Anteil von Schülern mit Behinderung in den Regelschulen; es scheint, als ob sich die deutschen Schulen mit der Inklusion schwertun – kein Wunder angesichts der personell meist unzureichenden Ausstattung. “Inklusion bedeutet eben, jeden Einzelnen mitzunehmen und alle einzubeziehen. Heißt, alle am Prozess der Inklusion beteiligten Kinder, Eltern, Lehrer vorzubereiten, zu befähigen und professionell beim Miteinander zu unterstützen”, sagt Roswitha Hoerder vom Deutschen Verband der Ergotherapeuten (DVE). Ihr Berufsstand könne dabei eine wichtige Rolle spielen.

Ergotherapeuten unterstützen Schüler mit Behinderungen beim Alltag in der Regelschule – und damit auch ihre Lehrkräfte. Foto: Shutterstock.

Die Inklusion verlangt den Schulen einiges ab. “Dabei könnte Inklusion leichter gehen”, findet die Ergotherapeutin Hoerder, die an einer Ganztagsschule arbeitet. Ihr Arbeitsschwerpunkt ist in den unteren, vorwiegend in den ersten Klassen, denn der Übergang in die Schule stellt für alle Erstklässler ein Umgewöhnen, für einige eine Herausforderung dar.

Viele Kinder haben anfangs ähnliche Schwierigkeiten, müssen lernen, sich im Schulalltag zurechtzufinden, sich für die Pause oder den Sport umzuziehen. Anschluss und Freunde zu finden, sich sozial zu integrieren. Aber auch das Geschehen in der Mensa – immer mehr Schulen sind Ganztagesschulen – ist für einige Kinder eine Hürde. Sie geraten unter Druck, vor allem die Kinder, die körperlich eingeschränkt sind oder diagnostizierte oder bis dahin nicht erkannte Entwicklungsverzögerungen und andere Störungen haben. Das sind die meisten.

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Schritt eins: Kinder mit Schwierigkeiten identifizieren

Ergotherapeuten wie Roswitha Hoerder sitzen vom ersten Schultag an mit in den Klassen. Sie beobachten zunächst einmal sehr genau; das ist ein typisches ergotherapeutisches Analysemittel, das äußerst aussagkräftig ist – Verhalten ist im Vergleich zu Befragungen ungefiltert. In ihren Betrachtungen berücksichtigt die Ergotherapeutin, was einzelne Tätigkeiten und Handlungsabläufe den Kindern in der Schule abverlangen. Also wie sie innerhalb der Klasse, im Umgang mit Lehrern und den Mitschülern oder Materialien zurechtkommen, wie sie selbst strukturiert sind und sich im System Schule zurechtfinden.

Dabei stützt sie sich auf ergotherapeutische Modelle wie das sogenannte Person-Environment-Occupation Model (PEO) oder das Canadian Model of Occupational Performance & Engagement (CMOP-E), ein kanadisches Modell, das Aspekte wie die Persönlichkeit und den Charakter, kognitive und körperliche Fähigkeiten aber auch den gesundheitlichen oder kulturellen Hintergrund des jeweiligen Kindes beleuchtet. Denn in all diesen Faktoren finden sich die Gründe für die Schwierigkeiten, die von außen sichtbar sind.

Ergotherapeutischer Blick auf vermeintlich Banales

Oft sind es die vermeintlich banalen Dinge des Schulalltags, die übersehen und deren Auswirkungen meist unterschätzt werden. Klappt das Anziehen für die Pause nicht, kommt das Kind verspätet auf den Pausenhof. Dann sind die anderen Kinder schon in Gruppen, im Spielen. “Das ist eine Situation, in der das Kind isoliert ist, also keine Inklusion erlebt, und eine schlechte Pause hat. Wie geht das Kind danach in den Unterricht? Wie kann es folgen, wenn es sich in der Pause nicht erholt hat?”, bebildert die Ergotherapeutin Hoerder, weshalb sie ihren Blick auf sämtliche Handlungen im Schulalltag richtet.

Ähnliche Situationen können sich beim Mittagessen entwickeln, das in einem festgelegten Zeitfenster stattfindet. Verschüttet das Kind täglich etwas, lässt es sein Tablett fallen oder hat es beim Essen Schwierigkeiten, weil es das Besteck nicht handhaben kann oder aus körperlichen Gründen Probleme bei der Nahrungsaufnahme hat, dann sorgt das für Stress, was wiederum die anderen Bereiche beeinflusst. Denn unter Stress kann sich kein Kind konzentrieren, Neues aufnehmen, sich am Unterricht beteiligen.

Je nach Charakter, Herkunft oder Fähigkeiten machen Kinder, die sich derart unwohl oder unter Druck fühlen, auf sich aufmerksam, indem sie stören oder ihre Sitznachbarn ablenken. Und beeinträchtigen so den Rest der Klasse. Daher kümmert sich die Ergotherapeutin um alles, was ihr auffällt. Häufig reichen einfache Veränderungen (wie dem Kind einen anderen Platz zuweisen, der nicht mitten im Getümmel ist oder für die Mensa Besteck anpassen oder eine rutschfeste Unterlage für das Tablett besorgen). Hat das Kind hingegen Probleme beim Anziehen, vermitteln Ergotherapeuten Strategien, die ihm helfen, selbst besser zurecht zu kommen, Alternativen zu finden oder wie es Hilfe von anderen erhält.

Inklusion bedeutet auch Beziehungsarbeit

Für die Ergotherapeutin Hoerder ist es selbstverständlich, das gesamte System zu betrachten und einzubinden. “Ich bin bereits beim ersten Informationsabend für Eltern dabei. Den Eltern der neuen Erstklässler erkläre ich meine Funktion und, noch wichtiger: Ich kläre auf und nehme die Furcht”, betont sie, denn Vorurteile und das Nicht-Wissen, sowohl bei Eltern als auch bei Lehrern, sind oft der Grund, warum Inklusion so schwerfällt.

Dem treten Ergotherapeuten mit ihrem Background, unter anderem aus medizinischem Wissen, entgegen. Roswitha Hoerder weiß aus ihrer langjährigen Berufserfahrung, wie hilfreich es ist, die Auswirkungen einer Erkrankung oder einer Störung zu kennen. Wenn die Kinder zuhause berichten, was bestimmte Klassenkameraden tun oder wie sie sich verhalten, wissen die Eltern, warum das so ist und können ihr von der Ergotherapeutin erworbenes Wissen an das eigene Kind weitergeben. “Wenn Kindern und Eltern klar ist, dass beispielsweise ein Mitschüler mit Autismus nicht mag, wenn andere Kinder sich an ihn heranpirschen oder ihn berühren, gibt es weniger Irritationen im Miteinander und letzten Endes läuft es dadurch auch besser im Unterricht”, berichtet Hoerder.

Verständnis, Empathie und der Wille, Andere und Andersartigkeit zu akzeptieren, sind grundlegend für Inklusion. Und das vermitteln Ergotherapeuten eben auch. Und tragen so dazu bei, dass das, was an Schulen an erster Stelle steht – das Lernen – für alle besser klappt. News4teachers

Hintergrund

Der Deutsche Verband der Ergotherapeuten (DVE) definiert die Ergotherapie folgendermaßen:

„Ergotherapie unterstützt und begleitet Menschen jedes Alters, die in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt oder von Einschränkung bedroht sind. Ziel ist, sie bei der Durchführung für sie bedeutungsvoller Betätigungen in den Bereichen Selbstversorgung, Produktivität und Freizeit in ihrer persönlichen Umwelt zu stärken. Hierbei dienen spezifische Aktivitäten, Umweltanpassung und Beratung dazu, dem Menschen Handlungsfähigkeit im Alltag, gesellschaftliche Teilhabe und eine Verbesserung seiner Lebensqualität zu ermöglichen.“

Wozu ist Inklusion in der Schule überhaupt gut? Eine Erinnerung zum Tag der Menschen mit Behinderungen

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