WIESBADEN. Das Projekt „Aufgeklärt statt autonom“, das Schüler vor Linksextremismus warnen soll, enthält gravierende fachliche und fachdidaktische Mängel. Das jedenfalls ist das Ergebnis einer wissenschaftlichen Expertise, welche die GEW Hessen in Auftrag gegeben hat. Die Gewerkschaft fordert Lehrer auf, das Material – das im Auftrag der Landesregierung produziert und an alle weiterführenden Schulen im Land wurde, „in Mülltonnen zu entsorgen“.
„Linksextremismus spricht viele Sprachen“, so warnt ein Plakat. In der Folge wird aufgezeigt, was alles dazu gezählt wird: Globalisierungskritik etwa, Antifaschismus, Antikapitalismus. Eine Trennlinie zwischen denen, die womöglich nur grundsätzlich Kritik üben (und damit ein Grundrecht wahrnehmen) und denen, die sich gewaltbereit zeigen, ist nicht erkennbar. Eine Abgrenzung zum Rechtsextremismus, der Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe oder kulturellen Herkunft herabwürdigt, findet überhaupt nicht statt. Alles eins – alles gefährlich, so scheint es.
An alle Schulen unaufgefordert verschickt
Die Plakatreihe, die zum Projekt „Aufgeklärt statt autonom“ gehört, setzt sich aus zwölf Postern zusammen, die unterschiedliche Aspekte des Themas „Linksextremismus“ behandeln. „Oberflächlich“, wie die GEW moniert. Hinzu kommen begleitende Arbeitsmaterialien für den Einsatz im Unterricht. Das Projekt wurde im Auftrag des beim Innenministerium angesiedelten Hessischen Kompetenzzentrum gegen Extremismus von einem Verlag produziert. Im November wurden diese Materialien allen weiterführenden Schulen in Hessen unaufgefordert zugesandt.
Birgit Koch, Vorsitzende der GEW Hessen, fordert nun alle Schulen auf, diese Materialien nicht für den Unterricht zu verwenden: „Dass unsere Demokratie heutzutage von rechts gefährdet wird, kann inzwischen niemand mit politischem Urteilsvermögen ernsthaft bezweifeln. Diese Gefahr ist nur eines der vielen drängenden Themen, denen sich die politische Bildung an Schulen stellen muss. Die Plakatreihe ‚Aufgeklärt statt autonom‘ setzt nicht nur einen falschen inhaltlichen Schwerpunkt, sie weist darüber hinaus auch schwerwiegende fachliche Mängel auf.“
Das nun vorgelegte Gutachten problematisiert insbesondere die Orientierung an dem wissenschaftlich hoch strittigen Extremismuskonzept, welches auf eine Gleichsetzung von Links- und Rechtsextremismus hinausläuft. Darüber hinaus werde das Projekt den anerkannten Standards der politischen Bildung, wie dem so genannten „Kontroversitätsgebot“, nicht gerecht. Diesem zufolge hätte beispielsweise ein politisch und wissenschaftlich strittiger Ansatz wie die Extremismustheorie auch als kontrovers dargestellt werden müssen. Dies sei aber nicht der Fall.
“Pädagogisch und didaktisch nicht haltbar”
„Im Extremismuskonzept bilden Rechts- und Linksextremismus die entgegengesetzten Endpunkte eines Kontinuums, dessen Zentrum die demokratische Mitte bildet. Damit besteht die Gefahr, dass Links- und Rechtsextremismus trotz der fundamentalen Unterschiede inhaltlich gleichgestellt werden“, so schreibt dazu Prof. Dr. Richard Stöss in einem Beitrag für die Bundeszentrale für Politische Bildung. „Es führt nicht zu neuen Erkenntnissen, es verhindert sogar differenzierte Einsichten in die komplizierte Welt gesellschaftlich-politischer Sachverhalte. Denn der Extremismusbegriff beruht auf zweifelhaften Annahmen, zwängt völlig unterschiedliche Untersuchungsobjekte in eine Schublade, betreibt Schwarz-Weiß-Malerei und wird auch durch seine Eindimensionalität der komplexen Wirklichkeit nicht gerecht. Daher zählt das Extremismuskonzept auch nicht zum Standard sozialwissenschaftlicher Forschung.“
Die Autorin Dr. Martina Tschirner, sie lehrt an der Professur für Didaktik der Sozialwissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt, und der Autor Dr. Christoph Bauer, Lehrer an einem Frankfurter Gymnasium, kommen aufgrund ihrer Analyse deshalb auch zu folgendem Fazit: „Das zur Bewertung stehende Material zeigt sich eindeutig als wissenschaftlich, pädagogisch und didaktisch nicht haltbar. Es ist vielmehr Ausdruck einer längst überholt geglaubten politischen Bildung, die mit Affirmation und Einseitigkeit arbeitet und auf sie abzielt. Von kritischer Reflexion, eigenständigem Urteil und Wissenschaftsorientierung ist hier nicht nur keine Spur, dieses Defizit wird sogar durch vermeintliche Objektivität und Lebensweltbezüge aktiv verschleiert. Das Material ist aus unserer Sicht unverzüglich aus den Schulen zu entfernen.“
“Qualität von Unterrichtsmaterialien sichern”
GEW-Landeschefin Koch fordert entsprechende Konsequenzen: „Diese Materialien, die nach unserem Wissen bislang zum Glück auf wenige Resonanz gestoßen sind, sollten nun flächendeckend in die Mülltonnen entsorgt werden. Für die Zukunft wünschen wir uns vom Land Hessen eine andere Prioritätensetzung in der Präventionsarbeit. Außerdem stellt sich einmal mehr die Frage, wie die Qualität von Unterrichtsmaterialien gesichert werden kann, die ergänzend zu den zugelassenen Schulbüchern zum Einsatz kommen. Die Kolleginnen und Kollegen müssen sich darauf verlassen können, dass an die Schulen adressierte Materialien den fachdidaktischen und wissenschaftlichen Ansprüchen genügen.“
Sie ergänzt: „Unsere von Anfang an bestehende Skepsis wird von diesem Gutachten voll und ganz bestätigt.“ News4teachers
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