HAMBURG. Hamburgs Bildungssenator Ties Rabe (SPD) ist im Kreis der Kultusminister hochangesehen. Nicht nur, dass er jetzt in seine dritte Amtszeit geht – und damit das Geschäft besser kennt als die meisten seiner Amtskollegen. Als Sprecher der SPD-geführten Kultusministerien hat er darüber hinaus Einfluss auf viele Bundesländer. Den nutzt er in diesen Tagen, um für schnelle und weite Schulöffnungen zu trommeln. Nicht einmal aktuelle Warnungen der Hamburger Kinderkliniken bremsen ihn dabei.
War es unnötig, in der Corona-Krise die Kitas und Grundschulen zu schließen, um das Infektionsgeschehen in Deutschland zu bremsen? Hamburgs Schulsenator Ties Rabe (SPD) meint offenbar: Ja. „Ich glaube, dass wir mit dem damaligen Wissen nicht anders handeln konnten, als vor drei Monaten die Schulen zu schließen. Heute wissen wir in der Tat, dass das Infektionsrisiko gerade bei Kindern unter zehn Jahren viel geringer ist als ursprünglich angenommen. Mit diesem heutigen Wissen wird man das eine oder andere künftig anders machen“, so sagte Rabe wörtlich in einem Interview mit der „Welt am Sonntag“, das am Wochenende erschien.
“Wir wussten es damals nicht besser”
„Aber das ist keine Kritik“, meinte Rabe gegenüber der Zeitung. „Wir wussten es damals nicht besser. Und dann gilt, dass man besser vorsichtig ist als übermütig.“ Weiter erklärte er: „Viele Wissenschaftler gehen inzwischen davon aus, dass das Infektionsrisiko für Kinder – vor allem unter zehn Jahren – deutlich geringer ist als bislang angenommen und dass Kinder andere kaum infizieren. Deshalb kann man mit Sicherheit sagen, dass es an den Grundschulen nach den Sommerferien Regelunterricht im Klassenverband geben wird.“
Dabei ist es wissenschaftlich höchst umstritten, ob Kinder weniger infektiös sind als Erwachsene, wie mehrere Ärzteverbände behaupten und eine baden-württembergische Studie im Auftrag der dortigen Landesregierung jüngst belegt haben will (News4teachers berichtete ausführlich darüber). Das war der Debatte um Untersuchungsergebnisse von Prof. Christian Drosten von der Berliner Charité zu entnehmen, die es sogar auf die Titelseite der „Bild“-Zeitung geschafft hat – und deshalb auch von der Hamburger Bildungsbehörde nicht unbemerkt geblieben sein dürfte.
Ergebnis: Der international renommierte Corona-Forscher Drosten bleibt bei dem Befund, dass Kinder eine ebenso hohe Virenlast tragen können wie Erwachsene. Er warnte in der vergangenen Woche sogar noch einmal eindrücklich vor unbedachten Schulöffnungen – unter Verweis auf eine Studie in Schweden, wo die Schulen nicht geschlossen worden waren und sich in der Folge sogar mehr Kinder und Jugendliche mit dem Coronavirus angesteckt haben als Erwachsene. Das wäre ja kaum möglich, wenn Kinder unter zehn Jahren mehr oder weniger Corona-resistent wären, wie Rabe wissen will.
Klinikstudie: Schließungen von Schulen und Kitas waren richtig
Zudem veröffentlichten erst am Freitag alle Hamburger Kinderkrankenhäuser eine gemeinsame Studie mit dem Namen C19 Child, die zu dem Ergebnis kommt, dass die Schließungen von Schulen und Kitas sehr wohl richtig waren. Die Wissenschaftler hatten nach den Schul- und Kitaschließungen rund 5.000 Kinder in der Hansestadt auf akute und möglicherweise bereits überstandene Infektionen mit dem neuartigen Coronavirus untersucht – und tatsächlich auch Kinder und Jugendliche mit Antikörpern im Blut gefunden. Allerdings keine (mehr) mit akuten Infektionen. «Daraus können wir schlussfolgern, dass die Lockdown-Maßnahmen für die Kinder und Jugendlichen in Hamburg erfolgreich waren», erklärte die Studienleiterin, die Direktorin der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin des UKE Prof. Ania Muntau.
So konnten die Forscher in der Altersgruppe von 0 bis 9 bei einem Prozent der Kinder einen positiven Antikörper-Nachweis erbringen, in der Altersgruppe 10 bis 18 Jahre wurden sie bei zwei Prozent fündig. Der Unterschied sei statistisch signifikant, heißt es. Die Wahrscheinlichkeit, einen positiven Antikörpertest zu haben, steigt bei Kindern der Studie statistisch mit zunehmendem Alter. «Mit jedem Lebensjahr um acht Prozent.» Daraus aber zu schlussfolgern, dass jüngere Kinder weniger infektiös seien – wie Rabe es tut –, lehnen die Wissenschaftler ausdrücklich ab. «Das könnte damit zusammenhängen, dass Kinder mit zunehmendem Alter einen größeren Radius und eine vermehrte Kontakt-Aktivität nach außen haben», erklärte Muntau. «Vielleicht ist es nur eine Frage des sozialen Verhaltens.»
Auch Kinder und Jugendliche können schwer an Covid-19 erkranken
Gleichzeitig warnte die Direktorin des Kinder-UKE davor, die Erkrankung „zu bagatellisieren“. Zwar zeichne sich inzwischen ab, dass Kinder und Jugendliche trotz eines möglicherweise in etwa gleichstarken Risikos, sich mit dem neuartigen Coronavirus zu infizieren, seltener schwer daran erkrankten als Erwachsene. Aber es könne auch bei Kindern und Jugendlichen immer zu schweren Verläufen kommen.
Auch einen Seitenhieb nach Baden-Württemberg verkniffen sich die Hamburger Mediziner nicht. Um Aussagen dazu zu machen, wie ansteckend Kinder und Jugendliche sind, sei der Zeitpunkt ihrer eigenen Studie der Falsche. Fragen nach der Infektiosität könne man nur in einer Phase mit einem dynamischen Krankheitsgeschehen beantworten, wenn sich viele Menschen untereinander ansteckten. Dann ließen sich Infektionswege nachvollziehen. Die baden-württembergische Studie war ebenfalls erst Wochen nach den Schulschließungen gestartet worden.
Rabe: Wenn die Zahl der Infektionen wieder steigt…
Den Bildungssenator ficht das nicht an. Was passiert, wenn doch eine zweite Corona-Welle kommt? Rabe betonte: „Wenn die Wissenschaftler recht haben, dass Kinder und Jugendliche in einem wesentlich geringeren Maße zu einer Verbreitung der Krankheit beitragen, dann muss bei einem möglichen Anstieg der Infektionen nicht automatisch die Schule als Erstes geschlossen werden, sondern dann muss über andere Maßnahmen nachgedacht werden. Es muss dann gelten: die Schulen zuletzt.“ News4teachers / mit Material der dpa
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