BERLIN. Wie ist die Corona-Situation aktuell in Deutschland einzuschätzen? Überaus beunruhigend, sagt der Berliner Virologie-Professor Christian Drosten mit Blick auf lokale Ausbrüche wie im Kreis Gütersloh. „Wir müssen alle Alarmsensoren wieder anschalten.“ Das betreffe insbesondere auch die Kitas und Schulen. Drosten übt scharfe Kritik an Kultusministern, die vollständige Schulöffnungen damit begründen, dass Kinder am Infektionsgeschehen nicht beteiligt seien. Das ist ihm zufolge schlicht: falsch. Er fordert eine ehrliche Debatte.
„Der zeitweilige Verlust von vertrauten Bezugspersonen hat für viele Schülerinnen und Schüler einen tiefen Einschnitt bedeutet – trotz des großartigen Engagements der Pädagoginnen und Pädagogen und der Unterstützung durch das Lernen auf Distanz“, so heißt es in einer Mail des Schulministeriums NRW, die gestern alle Schulen im Land erreichte (und die mit ähnlichen Formulierungen wohl von den meisten Kultusministerien in diesen Tagen verschickt wird). „Umso wichtiger ist es nun, den Kindern und Jugendlichen eine weitgehende Rückkehr zur schulischen Normalität zu ermöglichen. Das Ziel der Landesregierung ist es daher, im kommenden Schuljahr 2020/2021 unter Beachtung des Infektionsgeschehens wieder einen Regelbetrieb als Präsenzunterricht zu ermöglichen.“
“Kinder sind in deutlich geringerem Umfang infektionsgefährdet”
Woher das Schulministerium seinen Optimismus zieht, dass „der Unterricht in Präsenzform den Regelfall“ im kommenden Schuljahr darstellt, wie es wörtlich heißt, wird in dem Schreiben durchaus erklärt: „Vertreter von vier medizinischen Fachgesellschaften haben (..) mit Stellungnahme vom 19. Mai 2020 die nachdrückliche Empfehlung einer Wiederöffnung von Schulen mit Primarstufe ausgesprochen, da jüngere Kinder in deutlich geringerem Umfang infektionsgefährdet seien, zudem auch in geringerem Maße Überträger des SARS CoV-2-Virus. Diese wissenschaftliche Empfehlung wird durch die jetzt bekannt gewordene Stellungnahme von vier südwestdeutschen Universitätskliniken bestätigt.“
Fazit: „Das Ministerium für Schule und Bildung hat schon in den vergangenen Monaten die Lage permanent intensiv analysiert und regelmäßig neu beurteilt. Da sich das Infektionsgeschehen positiv entwickelte, konnten die Schulen schrittweise den Regelbetrieb wiederaufnehmen und immer mehr Schülerinnen und Schülern Präsenzunterrichtanbieten. Die aktuelle Lage gebietet es nun, nach den Sommerferien den Regelbetrieb in allen Schulformen und allen Schulen wiederaufzunehmen.“
Gebietet das die aktuelle Lage beim Infektionsgeschehen tatsächlich – nach dem Ausbruch in den Kreisen Gütersloh und Warendorf, wo nun alle Kitas und Schulen schon wieder geschlossen wurden? Virologe Drosten blickt in seinem aktuellen NDR-Podcast skeptisch in die Zukunft: «Ich bin nicht optimistisch, dass wir in einem Monat noch so eine friedliche Situation haben wie jetzt, was die Epidemietätigkeit angeht.» Man müsse alle Alarmsensoren wieder anschalten. Die Bevölkerung müsse einsehen, dass die Gesundheitsbehörden Unterstützung und Konsens bräuchten. Und das sieht für Drosten so aus: „Nicht zu viele Personen, nicht in einem geschlossenen Raum, die Enthemmung durch Alkohol spielt sicherlich eine Rolle, laute Musik, gegen die man laut anschreit, wo dann natürlich noch mehr Aerosol im Rachen gebildet wird – alle diese Dinge sind nicht gut.“
Drosten: “Es gibt eindeutig Schul-Ausbrüche in Israel”
Das Coronavirus war laut Drosten niemals wirklich verschwunden und werde „demnächst unbemerkt wieder überall sein“ – auch in Schulen und Kitas. Mit Reihentestungen von Schülern und Lehrern allein lasse sich die Pandemie nicht in den Griff bekommen. „Man kann ein Virus nicht wegtesten.“ Und zu viele positive Fälle könnten eben dazu führen, dass „wir plötzlich feststellen: Die Konsequenz ist, dass wir überall die Schulen wieder schließen müssen.“
Drosten hält fest: „Es gibt eindeutig Schul-Ausbrüche in Israel.“ Es gebe aktuelle Meldungen aus dem australischen Melbourne, dass dort Schulen von Corona-Ausbrüchen betroffen seien – nachdem dort eine ruhige Situation wie in Deutschland bestanden habe. Es gebe aktuelle Fälle in Schulen in Münster, Dortmund und Frankfurt, „Situationen, wo man ganz genau hinsehen muss, ob das wirklich Ausbruchsgeschehen sind oder ob es Einzeleinschleppungen waren“. In Berlin-Charlottenburg herrsche tatsächlich bereits eine Situation, die man Ausbruch nennen könne. Drosten: „Es gab dort, wenn ich richtig informiert bin, Weiterübertragungen. Es sind Schüler und Schulbeschäftigte betroffen.“ Und das sei nur erklärbar durch Ansteckungen innerhalb der Schule.
In seinem letzten Podcast hatte Drosten zudem auf Schweden verwiesen, wo die Schulen (bis auf die Oberstufen) nicht geschlossen wurden – und sich einer aktuellen Studie zufolge sogar mehr Kinder und Jugendliche angesteckt haben als Erwachsene (News4teachers berichtete ausführlich darüber – hier geht es zum Bericht).
“Wir werden eine andere Situation nach den Sommerferien haben”
Und was ist mit Studien wie der von vier baden-württembergischen Kinderkliniken, auf die sich Landesregierungen wie die baden-württembergische und eben auch das Schulministerium NRW berufen – und die laut Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) belegen, dass Kinder nicht nur seltener krank, sondern wohl auch seltener infiziert sind als Erwachsene? Untersuchungen, deren Daten unter Lockdown-Bedingungen erhoben worden seien, könnten nicht „das anzeigen, was man später sehen wird”, erklärt Drosten. Die Studienautoren selbst seien auch deutlich zurückhaltender in ihren Schlussfolgerungen. „Nach einem Lockdown verteilt sich das Virus anders in Altersgruppen. Wir werden eine andere Situation haben, wenn wir aus den Sommerferien herauskommen“, sagt Drosten voraus.
Deshalb könne eine Schlussfolgerung so simpel wie niederschmetternd lauten: „Vielleicht können wir keine virusfreien Schulen haben.“ Was bedeutet eine solche Erkenntnis – was heißt das für die Lehrer? Muss daraus die Konzequenz erfolgen, dass die Schulpflicht in Deutschland nicht mehr haltbar ist? In jedem Fall, so Drosten, müssten die Folgen Gegenstand einer zeitnahen breiten Diskussion in der Gesellschaft sein. Wichtig sei, dass bis zum Herbst die „Debatte gesellschaftlich geführt“ sei und „Vorüberlegungen getroffen“ würden. „Wir müssen unbedingt damit aufhören, zu sagen, die Kinder sind ja gar nicht betroffen – das ist eine Fehlinformation. Die kann uns auf die Füße fallen.“
Da nütze es auch nichts, wenn bestimmte Interessengruppen immer wieder erklärten: „Kinder haben ein Recht auf Bildung – das stimmt ja“, so Drosten. „Aber ich bin Wissenschaftler. Wissenschaft hat keine Meinung. Wissenschaft ist eine Faktenlage.“ Und dieser Realität müsse sich die Politik nun mal stellen. News4teachers
Der Beitrag wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers diskutiert.
