STUTTGART. Der Schulbetrieb in Baden-Württemberg läuft – wie in allen Teilen Deutschlands – seit Monaten im Ausnahmezustand. Nach den Sommerferien sollen nun aber auch die weiterführenden Schulen wieder voll öffnen. Knapp jeder dritten Lehrkraft (31 Prozent) geht das zu schnell – das geht aus einer Umfrage unter Lehrerinnen und Lehrern an Grund- und weiterführenden Schulen in Baden-Württemberg hervor, die der Verband Bildung und Erziehung (VBE) durchführen ließ. 39 Prozent der Befragten sind demnach der Meinung, man hätte mit der Öffnung der Grundschulen Ende Juni noch bis nach den Sommerferien warten sollen. Die Umfrage bringt die aus Sicht der Lehrkräfte größten Probleme im Schulalltag in Pandemie-Zeiten zum Ausdruck.
ABGEHÄNGTE KINDER: Die Schulschließungen haben die Wissenskluft zwischen den Kindern verschärft. Schwächere Schülerinnen und Schüler verlieren den Anschluss. Als größte pädagogische Herausforderung in der Schulöffnungsphase betrachten die meisten Lehrenden (77 Prozent) den Ausgleich von Lernrückständen. Deshalb wären auch 53 Prozent bereit, auf freiwilliger Basis außerplanmäßig in den Sommer- und Herbstferien zu unterrichten, um Lücken zu schließen. Das gilt für 18 Prozent der Befragten generell, für 22 Prozent bei Anrechnung auf ihre Pflichtstunden, für 13 Prozent nur bei besonderer Vergütung. Etwas weniger, nämlich 46 Prozent, wären bereit, im neuen Schuljahr auch an Samstagen zu unterrichten. Man müsse sich aber vom Gedanken verabschieden, dass man das Versäumte wieder komplett aufholen könne, sagt VBE-Landeschef Gerhard Brand.
LEHRKRÄFTEMANGEL: Bereits vor Corona mangelte es an Lehrkräften im Land. Er höre immer Stammtischparolen, Lehrer hätten es in der Krise zu Hause gutgehabt, aber die Belastung habe massiv zugenommen, sagt VBE-Landeschef Brand. Mehr als die Hälfte der befragten Lehrerinnen und Lehrer berichtet auch, dass die Arbeitsbelastung seit der Krise deutlich (28 Prozent) oder etwas (25 Prozent) höher sei als davor. Fernunterricht, versäumter Stoff, Ferien-Nachhilfe, Notbetreuung, gestaffelte Bewegungspausen, zeitversetzter Unterricht, Masken auf dem Pausenhof – der Organisationsaufwand sei gewaltig, so Brand. Es brauche mehr Personal.
Vor allem Grundschullehrkräfte klagen über eine höhere Belastung. 22 Prozent der befragten Lehrenden des Primarstufenbereichs wünschen sich die Einstellung neuer Lehrerinnen und Lehrer. Dass das Land den Lehrkräftemangel in den vergangenen Jahren nicht in den Griff bekommen habe, räche sich nun, sagt Brand. Auch die Bildungsgewerkschaft GEW fordert zusätzliches pädagogisches Personal zum Schulstart im September.
HYGIENE: Lehrerinnen und Lehrer sitzen jeden Tag mit vielen Kindern in einem Raum – nicht wenige sorgen sich vor Infektionen. Rund ein Drittel hält sich für nicht ausreichend geschützt, an den Grundschulen sind es sogar 41 Prozent. 71 Prozent der Befragten würden gerne regelmäßig und freiwillig auf das Virus getestet werden. 37 Prozent gaben an, dass die Lehrenden selbst die Räume putzen müssten. „Zu allen Belastungen obendrauf bekommen die Lehrkräfte also auch noch den Putzeimer in die Hand gedrückt!“, kritisiert Brand. Sein Verband fordert mehr freiwillige Corona-Tests, Plexiglasscheiben am Pult und Maskenpflicht für Schülerinnen und Schüler bei direkter Interaktion mit Lehrkräften.
LAPTOPS UND DIGITALE AUSSTATTUNG: Rund 40 Prozent fordern eine bessere digitale Ausstattung von Lernenden wie Lehrenden – das formulieren die Lehrkräfte als dringlichste Erwartung an das Kultusministerium. Die Ausstattung mit digitalen Endgeräten wird auch als erstes auf die Frage genannt, was die Lehrkräfte bei ihrer Arbeit in der momentanen Situation am Stärksten entlasten würde. Das Land will 300.000 Laptops und Tablets anschaffen – die solle es aber nur im Einzelfall für Lehrerinnen und Lehrer geben, kritisiert Brand. Es könne nicht sein, dass sie ihre privaten Geräte nutzen müssten.
Und wie reagiert der oberste Dienstherr auf die Forderungen der Lehrkräfte im Land? Im Kultusministerium liest man die Ergebnisse der Umfrage in erster Linie positiv. Die Einschätzungen der Befragten zeigten „eine insgesamt hohe Zustimmung zur Schulpolitik in der Corona-Krise und zu den Plänen für das neue Schuljahr“, teilte eine Sprecherin mit. Sie räumte aber auch ein: Das Coronavirus sei immer noch ein unberechenbarer Gegner, der langfristige Planungen erschwere. „Hier ist es für alle Schulpartner wichtig, gemeinsam im Gespräch zu bleiben.“ Von Nico Pointner (dpa)
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