HAMBURG. Eine Hamburger Elterninitiative hat in einem offenen Brief an Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) beklagt, dass sowohl ein klarer Schwerpunkt auf der Prävention einer weiteren Ausbreitung des Coronavirus fehle als auch ein klarer «Plan B» für den Fall, dass es an Schulen zu Infektionsausbrüchen kommt. «Auf dieser Basis ist ein sicherer und geordneter Schulbeginn nicht möglich», heißt es. Der Bürgermeister reagiert.
„Wir vermissen insbesondere einen klaren Schwerpunkt auf der Prävention einer weiteren Ausbreitung des Sars-CoV-2-Virus und einen ebenso klaren `Plan B‘ für den Fall, dass es an Schulen zu Infektionsausbrüchen kommt. Auf dieser Basis ist ein sicherer und geordneter Schulbeginn nicht möglich. Dies ist umso besorgniserregender, als mit dem Ende der Sommerferien die Infektionszahlen bundesweit und auch in Hamburg wieder merklich ansteigen“, so heißt es in dem Schreiben.
Plötzliche Schulschließungen drohen, wenn das Infektionsniveau ansteigt
„Wir alle wünschen uns und den Kindern und Jugendlichen einen weitgehend normalen und verlässlichen Schulunterricht, im Sinne des Kindeswohls und der soziopsychologischen Entwicklung unserer Kinder. Das Kindeswohl ist aber ohne Gesundheitsschutz nicht zu haben. Und ohne ein vorausschauendes Konzept, das auch den Krisenfall mitdenkt, ist in Pandemiezeiten kein verlässlicher Unterricht zu gewährleisten. Es droht vielmehr bei einem Anstieg des allgemeinen Infektionsniveaus zu unvorhersehbaren partiellen bis flächendeckenden Schulschließungen zu kommen, die dann wieder zu ungeordneter Rückkehr zum Hybridunterricht bzw. zum alleinigen Homeschooling zwingen.“
Vor allem die Aufhebung der Abstandsregel und die Gefahr durch Aerosole beunruhigen die Initiatoren. „Abstand halten im Klassenzimmer muss möglich und die Regel sein. Dies kann insbesondere ermöglicht werden durch geteilte Klassen und Unterricht in Kleingruppen, Reduzierung der Wochenstundenzahl im Präsenzunterricht, Kombination mit digitaler Lernstoffvermittlung. Notfalls müssen Unterrichtsinhalte konzentriert und Stoffpläne gekürzt werden.“ Für regelmäßiges, vorzugsweise dauerhaftes Lüften der Unterrichtsräume, Umkleiden etc. müssten nötigenfalls technische Möglichkeiten geschaffen werden – und zwar umgehend.
Bildungssenator hält Kinder für weniger von Corona betroffen
Die Eltern monieren, dass die Hamburger Bildungsbehörde die wissenschaftliche Erkenntnislage „fragwürdig“ auslege. Tatsächlich hatte Bildungssenator Ties Rabe (SPD) noch in der vergangenen Woche in einem Interview erklärt: „Das ist zwar wissenschaftlich nicht bis ins Letzte ausgeleuchtet, das gebe ich allen zu, aber die meisten Wissenschaftler sind sehr klar in der Auffassung, dass das ganz anders ist als bei der Spanischen Grippe, die man früher immer mit Corona gleichgesetzt hat.“ Die Spanische Grippe habe vor allem Kinder und Jugendliche betroffen. „Und hier ist es genau umgekehrt“, meint Rabe. „Das Infektionsgeschehen bei Kindern und Jugendlichen kann nicht gleichgesetzt werden in seinen Auswirkungen mit dem, was bei Erwachsenen passiert. Das ist ein Momentum, das man berücksichtigen muss in dem Abwägungsprozess, vor dem jetzt die Politik steht.“
Die Eltern betonen jetzt: „Diese Auffassung ist nach veröffentlichten wissenschaftlichen Erkenntnissen in Teilen fragwürdig. Erfahrungen anderer Länder zeigen, dass Kinder und Jugendliche in ähnlichem Umfang teil am Infektionsgeschehen haben wie andere Altersgruppen auch. In Israel mussten bereits kurz nach Öffnung der Schulen Mitte Mai über 170 Schulen wegen Sars-CoV-2-Ausbrüchen wieder geschlossen werden. In Frankreich und Australien ließ sich in dokumentierten Fällen die Ausbreitung des Virus in Schulen nachvollziehen. Eine aktuelle Studie zu einem Coronavirus-Ausbruch in einem Sommercamp untermauert der US-Gesundheitsbehörde CDC zufolge die Erkenntnis, dass sich Kinder jeden Alters mit dem Erreger infizieren können.“
Schulen sollen nicht “wie die Titanic” auf den Ernstfall zusteuern
Alles in allem „erweckt das bislang vorliegende Konzept noch nicht das Vertrauen, dass Hamburgs Schulen gut gerüstet in und durch das kommende Schuljahr gehen“. Erwartet würden dringende kurzfristige Nachbesserungen und eine grundlegende Überarbeitung unter Einbeziehung der Schüler-, Eltern- und Lehrervertretungen sowie dem Gesamtpersonalrat – auch gerade mit Blick auf die Infekt-Saison im Winterhalbjahr. „Hamburgs Schulen dürfen nicht auf den Ernstfall zusteuern wie die Titanic auf den Eisberg.“
Der Bürgermeister verteidigte den Schulstart im Vollbetrieb gegen die Kritik. «Sie können sicher sein, dass wir wirklich sehr, sehr vorsichtig abwägen und dass wir jederzeit reagieren, wenn wir Einschätzungen haben, die sich nicht bestätigen. Aber in dieser Situation ist es sehr vertretbar, jetzt mit dem Schulunterricht wieder zu beginnen», sagte Tschentscher am Dienstag im Rathaus. Sollte es einen Corona-Fall an einer Schule geben, würden sofort die notwendigen Maßnahmen für die Klasse oder die Schule eingeleitet. Derzeit sagten jedoch alle Fachgesellschaften und Virologen, dass ein Vollbetrieb vertretbar sei, betonte Tschentscher.
RKI fordert: Klassen zusammenhalten – das passiert aber nicht
Was allerdings von der Definition des Begriffs “Vollbetrieb” abhängt. Lothar Wieler, Präsident des Robert-Koch-Instiuts, hatte vergangene Woche betont, es sei wichtig, dass man Klassenverbünde zusammenhalte und die Klassen nicht mische. Es müssten sogenannte „epidemiologische Einheiten“ gebildet werden. Auch in der Freizeit sei es sinnvoll, wenn sich Schüler dann nur mit den Schülern treffen, mit denen sie schon in der Schule waren. In Hamburg aber gilt – wie in den anderen Bundesländern auch – das “Kohortenprinzip”. Heißt: Kontakte innerhalb der Schule sollen auf einen Jahrgang beschränkt werden, der schon mal deutlich mehr als 100 Schüler umfassen kann. Sogar davon sind Ausnahmen, etwa im Ganztag, erlaubt.
“Eine Schulöffnung nach dem Prinzip ‘Augen zu und durch’, die vor allem darauf setzt, dass es angesichts der – noch – geringen Infektionszahlen nicht zu Ausbrüchen an Schulen kommen werde, genügt nicht dem Vorsorgeprinzip”, so meinen die Hamburger Eltern. News4teachers / mit Material der dpa
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