BERLIN. In gut der Hälfte der Bundesländer ist der Schulbetrieb nach den Sommerferien wieder angelaufen – und Kultusminister betonen öffentlich, der Schulstart sei gut gelungen. Auf welcher Datenbasis eigentlich? Systematisch werden Corona-Infektionen an Schulen offenbar gar nicht erfasst. Mehr noch: Berichte legen nahe, dass Corona-Infektionen unter Schülern und Lehrern mitunter keinerlei Konsequenzen für den Schulbetrieb haben. Sollen die Schulen um jeden Preis offengehalten werden?
„Die vorliegenden Zahlen zeigen, dass der Schulstart in Nordrhein-Westfalen gut gelungen ist“, befand NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) am vergangenen Dienstag. Irritierend an der Aussage war die Datenbasis, die ihr zugrunde lag. Gebauer bezog sich auf eine Befragung der Schulen in NRW, die lediglich die ersten drei Schultage nach dem Ende der Sommerferien betraf und an der jede fünfte Schule gar nicht teilgenommen hatte – über ein präziseres und aktuelleres Corona-Informationssystem verfügt das Ministerium offenbar nicht. Am Samstag erschien ein „Spiegel“-Bericht, in dem immer noch auf diese Zahlen rekurriert wurde. „Aktuellere Zahlen von offizieller Stelle liegen nicht vor“, so berichtet das Blatt. Dabei gibt es nach Medienberichten Dutzende weitere Infektionen an Schulen in NRW.
Karliczek: Schulstart wurde “sehr, sehr stark” vorbereitet
Die dünne offizielle Datenbasis hielt Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) allerdings nicht davon ab, eine positive Zwischenbilanz nach dem Start des neuen Schuljahrs in mehreren Bundesländern zu ziehen. Die Länder hätten sich „sehr, sehr stark darauf vorbereitet“, dass der Regelbetrieb wieder gut starte. „Und ich würde sagen, der Regelbetrieb ist gut gestartet.“
Es mehren sich allerdings die Zweifel, ob das von der Politik vermittelte Bild vollständig ist – und ob überhaupt ein Interesse daran besteht, das Infektionsgeschehen in den Schulen vollständig aufzuzeigen.
Bei der „Westdeutschen Zeitung“ meldete sich in diesen Tagen eine Mutter, deren Sohn in Wuppertal ein Schulzentrum mit rund 2.500 Schülern besucht. Sie hatte davon erfahren, dass es einen Infektionsfall an der Schule gibt, ohne dass irgendwelche sichtbaren Konsequenzen gezogen worden waren. Tatsächlich bestätigte die Stadt gegenüber der Zeitung, dass ein Schüler des Schulzentrums infiziert sei. Dass der Schulbetrieb trotzdem ohne Quarantänemaßnahmen für seine Klasse oder das gesamte Schulzentrum weiterlief, begründete das Gesundheitsamt der Stadt damit, es sei überzeugt, dass das Hygieneschutzkonzept dort eingehalten werde. Das positiv getestete Kind befinde sich in Quarantäne, es weise keine Symptome auf. „Wir handeln in diesem Fall nach den Richtlinien des Robert-Koch-Instituts“, so heißt es laut Bericht seitens der Stadt.
Stadt hält Informationen über Corona-Infektionen an Schulen zurück
Dass die Zeitung erst von der Mutter – und nicht von der Pressestelle der Stadt – von der Infektion erfuhr, gehört in Wuppertal offenbar zum System: Bisher halte sich die Stadt „zum Schutz der Schulen“ zurück, wenn es darum gehe, Schulen und Kitas zu benennen, an denen es bestätigte Coronafälle gibt, so schreibt die „Westdeutsche Zeitung“.
Zum Schutz der Schulen – oder zum Schutz einer Öffnungspolitik um jeden Preis? Noch in den Sommerferien hatte der Wuppertaler Schuldezernent Stefan Kühn die Linie vorgegeben: „Auch wenn derzeit in Europa, Deutschland und bei uns in Wuppertal die Fallzahlen steigen, müssen wir die Schulen wieder öffnen. Die Frage, ob es sinnvoll oder ein Schritt ins Chaos ist, stellt sich nicht. Es gibt keine Alternative. Die Schulen müssen wieder öffnen und entsprechende Rahmenbedingungen für einen sicheren Unterricht geschaffen werden. Die schulische Bildung der Kinder darf nicht weiter leiden“, so erklärte er in einem Interview mit der „Wuppertaler Rundschau“.
Nicht jede Corona-Infektion unter Schülern und Lehrern wird an die große Glocke gehängt
Auch in Schleswig-Holstein wird offenbar nicht jede Corona-Infektion in einer Schule an die große Glocke gehängt, wie Recherchen des NDR zeigen. So habe an einer Gemeinschaftsschule in Heide der Unterricht am vergangenen Montag stattgefunden wie immer – obwohl es unter den 550 Schülern der Schule bereits zwei positive Fälle in der fünften und siebten Klasse gegeben habe. Nur wenige Schüler und keine Lehrer seien nach Angaben der Schule in Quarantäne geschickt worden, zunächst jedenfalls. Die Begründung der Schulleitung: „Das Schönste für uns Pädagogen ist, wenn Schüler in der Schule sind.“ Das Ziel sei es, möglichst viele Schüler im Unterricht zu haben. „Das ist ja auch das, was uns vom Ministerium vorgegeben wird.“ Erst als im Laufe des Tages in derselben siebten Klasse eine weitere Infektion bekannt wurde, habe die Schulleitung diese Klasse bis zum 28. August nach Hause entlassen, so berichtet der NDR. Ob einer der Schüler den anderen in der Schule angesteckt hat, sei nicht bekannt.
Ähnliche Berichte haben die News4teachers-Redaktion aus Leserkreisen erreicht. „Wir haben zwei Verdachtsfälle, aber das Gesundheitsamt sagt, die Klassen, die Kontakt mit den Verdachtsfällen hatten, sollen weiter kommen. Sie sollen nur Abstände einhalten. Da wundert es mich nicht, dass es sich verbreitet“, so schreibt eine Lehrerin – wohlwissend, dass die Abstandsregel im Unterricht nach einem entsprechenden KMK-Beschluss vom Juni ja nicht mehr gilt.
“Unsere Schule hat einen bestätigten Fall – alles läuft weiter”
Eine andere erzählt: „Unsere Schule hat einen bestätigten infizierten Lehrer, aber alles läuft wie gewohnt weiter, keiner außer ihm in Quarantäne. Scheint ein neuer Versuch zu sein: Was passiert, wenn man alles so lässt?“ Wenige Stunden später aktualisiert sie ihren Bericht: „Gerade kam die Nachricht, dass eine weitere Lehrerin vorsorglich in Quarantäne ist. Der erkrankte Lehrer hatte Dienstag und Mittwoch noch Unterricht gemacht. Die Kinder brauchen nicht in Quarantäne!“
Wie an Schulen mit Corona-Infektionen umgegangen wird, entscheidet die Schulleitung in Absprache mit dem Gesundheitsamt. Klare Regelungen, wann was geschehen muss, gibt es dabei nicht. Wann müssen Mitschüler oder Kollegen eines Infizierten in Quarantäne? Wann trifft es eine Klasse, eine Lerngruppe oder einen Jahrgang? Welche Kriterien sind dafür ausschlaggebend? Das ist von Fall zu Fall verschieden – erklärt Astrid-Sabine Busse, die Vorsitzende des Interessenverbands Berliner Schulleitungen, gegenüber dem Sender rbb|24. „Man kann hier nicht alles über einen Kamm scheren. Vielmehr müssen die Schulleitungen gemeinsam mit der Schulaufsicht und dem jeweiligen Gesundheitsamt immer individuell die jeweilige Lage beurteilen. Und das ist mitunter sehr schwierig.“ Von etwaigen Richtwerten, ab welchem Infektionsausmaß Schulen komplett oder nur teilweise geschlossen werden müssten, sei ihr nichts bekannt.
Gesundheitsämter entscheiden bei Infektionen in Schulen sehr verschieden
Unklarheit herrscht auch in anderen Bundesländern. Die Schulleitungen müssten teils fragwürdige Vorgaben aus der Politik umsetzen und letztlich individuelle Lösungen finden, weil es an konkreten Regeln fehle, so kritisiert Harald Willert, Vorsitzender der Schulleitervereinigung NRW, gegenüber dem „Spiegel“. „Dazu kommt, dass den Schulleitungen das weitere Prozedere von den Gesundheitsämtern völlig aus der Hand genommen wird”, sagt Willert, „und diese Ämter entscheiden sehr verschieden – bei augenscheinlich gleicher Situation.“
Willert berichtet von einer Schule, bei der ein Schüler positiv auf Corona getestet worden war. Zwei Lehrkräfte hätten engeren Kontakt zu ihm gehabt. Zwei verschiedene Gesundheitsämter seien für sie zuständig gewesen. „Das eine hat einen Test angeordnet, das andere nicht.” Willert könne mehrere solcher Beispiele aufzählen, so heißt es in den Bericht. „Solche Entscheidungen sind nicht nachvollziehbar“, kritisiert er, „und das sorgt für Verunsicherung“.
Zumal politisch Verantwortliche wie NRW-Schulministerin Gebauer keinen Zweifel daran lassen, was sie von Gesundheitsämtern und Schulleitungen erwarten. „Es kann nicht sein, dass die Entscheidungsträger vor Ort reflexhaft als erste und einzige Maßnahme immer sofort Kitas und Schulen schließen“, wenn es im Umfeld der Bildungseinrichungen Corona-Fälle gebe, so hatte sie bereits im Juni erklärt. „Da wünsche ich mir eine differenzierte Betrachtungsweise – und keinen Aktionismus zu Lasten unserer Kinder.“ News4teachers
Einen Eindruck vom Ausmaß der Welle nach den Sommerferien vermittelt eine Karte, auf der die Twitter-Initiative #BildungAberSicher von Infektionen betroffene Kitas und Schulen, über die in Medien berichtet wurde, markiert. Bundesweit waren es am 20.8., 17 Uhr, 328, mittlerweile (23.8., 15 Uhr) sind es 402 – die meisten davon in Nordrhein-Westfalen.
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