BERLIN. Wieso müssen Restaurants und Friseure schließen, wenn doch angeblich offene Fenster reichen, um einen sicheren Unterricht zu gewährleisten? Weshalb müssen Abschlussklassen um jeden Preis in die Schule kommen? Wieso stellen Kultusminister Schulöffnungen im Februar in Aussicht, während die Bundesregierung über eine Verschärfung des Lockdowns diskutiert? News4teachers-LeserIn “kanndochnichtwahrsein”, selbst LehrerIn, reicht es jetzt mit den Widersprüchen – und fordert von den Bildungspolitikern: Zeigt endlich mal Verantwortungsbewusstsein! Wir möchten den Kommentar, der gestern als Leserpost veröffentlicht wurde, gerne einem breiteren Publikum vorstellen. Deshalb bringen wir ihn jetzt noch mal als Gastkommentar.
Leserbrief von kanndochnichtwahrsein, 16.01.2021 um 16:03 Uhr
Liebe Kultusminister/innen,
auch Lehrer können ausreichend beurteilen, dass die Lage ernst ist.
Glauben Sie nicht, dass wir die Situation einschätzen können?
Oder glauben Sie nicht, dass wir merken, wenn Sie das einfach nicht akzeptieren wollen?
Oder warum sonst wollen Sie uns einreden, wir sollten uns dann einfach mal wieder physisch vor die Klassen stellen?
Sind wir womöglich so entbehrlich, dass man unser Wohlergeben, unser Leben und das der Schüler gleich mit, aufs Spiel setzen kann?
Möchten Sie unseren Job unter den von Ihnen und Ihren Vorgängern vorgegebenen Umständen selbst tun?
Möchten Sie gerne in vollen Klassen unterrichten, mit Kindern, deren Familien sich privat nicht an die Regeln halten, im Winter, im Durchzug, bei Minustemperaturen vor dem Fenster, wohlwissend, dass ohne Wind der Luftaustausch dann aber doch nicht ausreichen kann und mit Wind die Finger und Zehen einfrieren, trotz dreifacher Jacke und Thermohose?
Warum müssen dieselben Kinder, die sich im Bus drängen, auf dem Schulhof Abstand halten?
Möchten Sie den Kindern erklären, warum sie trotz dieser Bedingungen in die Schule kommen müssen, sich im Bus drängen, auf dem Schulhof aber Abstand halten müssen, sich auf dem Schulhof nicht warmlaufen dürfen, weil sich dann die Gruppen vermischen würden, im Fachunterricht aber neben drei verschiedenen Mitschülern sitzen sollen, sich danach aber nicht mit dreien unter einer Decke wärmen dürfen, morgen vielleicht wieder auf Distanz lernen müssen, aber immer noch keine digitalen Endgeräte da sind?
Können Sie ihnen erklären, warum Noten und Klassenarbeiten wichtiger sind als die Gesundheit der Lehrer, der Schüler und ihrer Familien?
ICH kann es nicht und ich möchte auch nicht mehr per Dienstanweisung dazu gezwungen werden!
Ich halte das für unverantwortlich und meinen Schülern gegenüber für unfair.
Als Lehrer müssen wir Vorbilder sein, gradlinig, einschätzbar, offen, ehrlich, klar, reflektiert, wissenschaftsorientiert, zielorientiert, realitätsnah, vertrauenswürdig, verantwortungsvoll, verständnisvoll, rücksichtsvoll, ausgleichend, abwägend, tolerant… All das kann ich für meine Schüler nicht sein, wenn ich dienstlich angewiesen bin, eine Situation herzustellen, die dem zuwider läuft und mein Berufsverständnis grundlegend erschüttert! Wir Lehrer machen uns – auch wenn es nicht auf unserem Mist gewachsen ist – gerade total unglaubwürdig in den Augen unserer Schüler, denen wir ja noch nicht einmal offen sagen dürfen, dass wir das Handeln unserer Vorgesetzten für nicht richtig und für nicht angebracht halten.
Ich möchte meine Schüler weiter unterrichten, sie aber dabei vor Ansteckung schützen so gut es eben möglich ist (und mich selbst auch).
Ich möchte ihnen den Wert vermitteln, den ein Menschenleben hat, ich möchte ihnen zeigen, dass man nicht nur in der Schule lernt, dass Noten manchmal zweitrangig sind, dass es neben dem Satz des Pythagoras noch andere interessante Dinge zu entdecken gibt, dass Lehrer wirklich nur Vermittler des Wissen sind, Helfer, Ansprechpartner, dass sie selbst viele Stärken und Möglichkeiten haben, die es zu entdecken gilt…
Jeder Lehrer weiß am besten, was er selbst und seine Schüler leisten können
Ich würde mir wünschen, man traute uns Lehrern zu, das Beste aus dieser Situation machen zu können. Dazu muss aber endlich Ruhe ins System kommen – es ist nicht mehr tragbar bei 60 und mehr Wochenstunden jeden Tag mit der nächsten unbedachten Änderung rechnen und vor ihrer offiziellen Bekanntgabe schon darauf reagiert haben zu müssen, um die Arbeit auch nur im Ansatz leisten zu können! Dass dabei unsere eigenen Vorstellungen vom Lehrerdasein grundlegend in Frage gestellt werden, darf natürlich keine Auswirkung auf den Unterricht haben.
So darf das nicht weitergehen!
Jeder Lehrer weiß am besten, was er selbst und seine Schüler leisten können, wie sie am besten durch diese Zeit kommen, wie wir zusammen das Beste aus dieser Zeit machen könnten.
Lassen Sie uns doch einfach unseren Job machen, auch wenn die Art und Weise nun durch widrige Umstände ganz anders ist, als SIE Schule kannten und es dann vielleicht nicht IHRER (wie auch immer motivierten und geprägten) Vorstellung von Schule entspricht…
Jetzt wäre ein Zeitpunkt,in der Schule die richtigen Weichen zu stellen!
Ich würde mir auch wünschen, dass die widrigen Umstände zu einem Nachdenken über das Lernen, die Schule, den Wert von Bildung, den Aufwand für Bildung, die Zukunft unserer Kinder führen würde – und das nicht nur als Mantra wie „wir wollen unser altes Leben zurück“ oder „die Kinder müssen soziale Beziehungen haben“. Der Schulalltag ist in den letzten Jahren/Jahrzehnten alles andere als sozial oder bildungsgerecht gewesen – oder wie immer „die Gesellschaft“ sie sich schönredet, um ihr schlechte Gewissen den Kindern gegenüber zu vergessen…
Jetzt wäre ein Zeitpunkt, als Gesellschaft Weichen zu stellen, statt weitere Barrieren aufzubauen!
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