ULM. Der Geschlechterforscher Yves Jeanrenaud hat sich für den Gleichstellungsbericht der Bundesregierung mit der Frage befasst, warum Frauen im MINT-Bereich noch immer unterrepräsentiert sind. Dabei spielen offenbar kulturelle Barrieren wie MINT-bezogene Geschlechter-Stereotype, Rollen- und Berufsbilder eine große Rolle.
Noch immer ist der Frauenanteil unter den MINT-Studierenden in Deutschland mit etwa einem Drittel im internationalen Vergleich recht niedrig. Noch vielsagender ist der Anteil der weiblichen Beschäftigten in MINT-Berufen: Er beträgt gerade einmal ein Sechstel. Und das, obwohl im Zuge der Digitalisierung die Berufsaussichten und Karrierechancen insbesondere im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnik (IKT) besser sind denn je.
Nach wie vor ist noch immer das Klischee vom „Nerd“ weit verbreitet. „Denk‘ ich an Computertechnik, denk‘ ich an männliche Freaks ohne Sozialleben – abgesehen von der täglichen Begegnung mit dem Pizza-Boten“ diesen Satz würden wohl immer noch viele unterschreiben. Gerade in den Medien wird noch gern auf die Vorstellung vom Nerd zurückgegriffen oder zumindest referenziert.
Es ist nicht zuletzt dieses Bild vom männlichen Computer-Freak, das Frauen vom Informatik-Studium abhält. Zu dieser Einschätzung kommt nun Dr. Yves Jeanrenaud, derzeit Gastprofessor an der Universität Ulm. Für den Dritten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung hat er jüngst eine Expertise verfasst, die sich der Frage widmet, warum Frauen im MINT-Bereich noch immer unterrepräsentiert sind. In einer rund fünfzigseitigen Studie hat Jeanrenaud herausgearbeitet, welche kulturellen und strukturellen Faktoren Frauen davon abhalten, ein MINT-Studium aufzunehmen. Darin präsentiert er zudem einen Überblick über bestehende Fördermaßnahmen und gibt weitere Handlungsempfehlungen, wie der Frauenanteil im MINT-Bereich langfristig gesteigert werden kann.
Diese Stereotypen und Rollenbilder wirken sich auf die Berufswahl auf, erläutert Jeanrenaud: „Berufsbilder wie Ingenieur oder Informatiker sind noch immer männlich konnotiert. Insbesondere klischeehafte Rollenbilder wie die des Nerds werden so gut wie ausschließlich für junge Männer gebraucht. Viele Frauen fürchten sich davor, von ihrer `Weiblichkeit´ einzubüßen, wenn sie sich auf dieses männlich besetzte Terrain vorwagen. Sie entscheiden sich dann nicht selten gegen ein Informatik-Studium, obwohl sie ein gewisses Interesse dafür durchaus mitbringen“, so der Soziologe.
Warum das so ist? Von Kindesbeinen an mache der Mensch geschlechtsspezifische Sozialisationserfahrungen und internalisiere damit bestimmte Erwartungen, die an sein Geschlecht gebunden sind. „Passt die verinnerlichte Geschlechterrolle nicht zum geläufigen Berufsbild oder einer bestimmten Fächerkultur, droht die Abkehr“, expliziert Jeanrenau. Dies gelte „für Männer in Pflegeberufen genauso wie für Frauen in den Ingenieurwissenschaften oder Informatik“. Einen weiteren Gender-Effekt sieht Jeanrenaud im sogenannten MINT-Fähigkeitsselbstkonzept, das dazu führe, dass Mädchen ihre Leistungen in Mathematik und Naturwissenschaften ganz anders einschätzen als Jungen, selbst wenn diese gleich ausgeprägt sind.
Außerdem orientierten sich Mädchen beziehungsweise Frauen bei der Berufswahl oft noch an bestimmten sozialen Mustern und wünschten sich berufliche Tätigkeiten, bei denen sie mit anderen Menschen zu tun haben oder das Gefühl haben, etwas Sinnstiftendes zu tun. Vielen MINT-Berufen hafte allerdings noch immer das Image der isolierten Beschäftigung mit Dingen statt mit Menschen an. Dazu komme, dass viele Schülerinnen und Schüler nur vage oder gar keine Vorstellungen von vielen Technik-Berufen haben. Der Ulmer Wissenschaftler hält es daher für ratsam, die gesellschaftliche Bedeutung solcher Berufe stärker hervorzuheben und auch zu hinterfragen, ob nicht vielleicht auch sehr männlich geprägte Fachkulturen oder ein bestimmter Berufshabitus eine abschreckende Wirkung auf Frauen haben.
Eltern und Lehrern kommt nach Meinung des Gender-Forschers in diesem Zusammenhang die Rolle von entscheidenden „Gatekeepern“ zu, die einen großen Einfluss darauf hätten, welchen Weg die Kinder später einmal beruflich einschlagen werden. Wichtig seien auch positive Rollenmodelle, die Mädchen darin bestärken, MINT-Interessen zu entwickeln und selbstbewusst nachzugehen.
Immerhin stiegen die Frauenanteile in MINT-Studiengängen und -berufen dank umfangreicher Fördermaßnahmen vonseiten der Politik, der Wirtschaft und der Bildungsträger kontinuierlich an, stellt Jeanrenaud fest. Doch blieben die Zahlen teils noch immer weit unter den Erwartungen. So gebe es zwar im Studien-Fach Mathematik ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis, doch liege dies wahrscheinlich am hohen Anteil der Lehramtsstudentinnen in diesem Fach. Ein ähnlicher Effekt lasse sich in den Naturwissenschaften beobachten, wo ebenfalls dank entsprechender Lehramtsstudiengänge die Zahl von männlichen und weiblichen Studierenden so gut wie ausgeglichen sei. In den Technik-Fächern hingegen sehe dies mit einem Frauenanteil von 26,3 Prozent schon wieder ganz anders aus. Das Schlusslicht mache hier die Informatik mit einem Anteil an weiblichen Studierenden von 22 Prozent.
„Wir brauchen hier auf jeden Fall mehr weibliche Vorbilder und positive Rollenmodelle!“, fordert Jeanrenaud. Das müssten keine „nerdy Superheldinnen“ sein, wie die schwedische Hackerin Lisbeth Salander – und auch keine Mathe-Genies. Nach Meinung des MINT-Experten wird Mathematik im Informatik-Studium mitunter etwas überbetont. „Wir müssen gerade auch die normal begabten Schülerinnen für ein Informatik- oder Technik-Studium begeistern“, meint der Gender-Forscher. (zab, pm)
Die Expertise steht im Angebot der Geschäftsstelle Dritter Gleichstellungsbericht zum Download zur Verfügung: „MINT. Warum nicht? Zur Unterrepräsentation von Frauen in MINT, speziell IKT, deren Ursachen, Wirksamkeit bestehender Maßnahmen und Handlungsempfehlungen“
https://www.dritter-gleichstellungsbericht.de/de/article/251.mint-warum-nicht-zur-unterrepr%C3%A4sentation-von-frauen-in-mint-speziell-ikt-deren-ursachen-wirksamkeit-bestehender-ma%C3%9Fnahmen-und-handlungsempfehlungen.html
Künftige KMK-Präsidentin Ernst stellt Digital-Unterricht in den Mittelpunkt