BERLIN. Prof. Christian Drosten, Chef-Virologe der Berliner Charité, hat zu mehr Ehrlichkeit und Sachlichkeit in der Debatte um Corona-Infektionen in Schulen aufgerufen – und darauf hingewiesen, dass die (von allen Kultusministern immer wieder gebrauchte) PR-Floskel „Schulen sind keine Treiber der Pandemie“ der Situation nicht gerecht werde. „Diese Sprechweise hat an einigen Stellen verhindert, dass die Dringlichkeit des Problems wahrgenommen wurde und man das Ganze wirklich lösungsorientiert angefasst hätte“, sagte Drosten in der neuesten Folge seines NDR-Podcasts. Der Wissenschaftler sprach ironisch von „Lautmalerei“.
„Meine Aussage hat Bestand: Schulen sind keine Treiber der Pandemie.“ Niedersachsens Kultusminister Grant Hendrik Tonne (SPD) am 20. Januar 2021.
„Wir Kultusministerinnen und Kultusminister sagen alle, dass Schulen keine Treiber des Infektionsgeschehens sind.“ KMK-Präsidentin Britta Ernst, SPD, am 8. Januar 2021.
„Die Entwicklung in den Schulen in den vergangenen Monaten hat gezeigt, dass Schulen nicht die Treiber des Infektionsgeschehens sind.“ Mecklenburg-Vorpommerns Bildungsministerin Bettina Martin (SPD) am 7. Januar 2021
Seit Monaten vergeht kaum eine Woche, in der kein Kultusminister die Floskel gebraucht. Hinterfragt wird sie – auch von Medienvertretern – praktisch nie. Doch was bedeutet „Treiber“ überhaupt? Was steckt epidemiologisch hinter dem Begriff? Nicht so viel, wie man vermuten könnte. „Ich habe den Eindruck, dass manche Leute, die so argumentieren, vielleicht Lehrbuch-Beispiele aus der Epidemiologie im Kopf haben, die sich mit der Influenza beschäftigen“, der Grippe also, erklärt Prof. Drosten in seinem jüngsten NDR-Podcast.
“Noch immer kursiert dieses Wort »Treiber« der Pandemie, fast immer […] mit der Behauptung, Schulen oder Fitnessstudios oder Büros seien keine Treiber der Pandemie–[…] als triebe nicht jeder, der ein hochinfektiöses Virus weitergibt, die Pandemie.” https://t.co/sQz9aKZCYK
— Christian Drosten (@c_drosten) February 2, 2021
Bei der saisonalen Grippe sei der Effekt tatsächlich deutlich: „Bei der sind wir Erwachsenen und auch die Kinder ab einem gewissen Alter alle schon mit dem Virus in Kontakt gewesen und haben eine gewisse Immunität. Die kleinen Kinder haben das aber nicht. Unter den kleinen Kindern kocht das Virus deshalb so richtig hoch, denn die sind immunologisch naiv, die sind die Nische in der Population, wo das Virus hinkann, sich vermehren kann – und von dort streut es dann wieder aus in die Erwachsenen-Jahrgänge. In diesem Sinne sind bei der saisonalen Grippe die Kinder die Treiber des Geschehens. Auch die Schulen, wenn man so will, sind dann Treiber des Geschehens“, sagt der international renommierte Virologe, um spöttisch anzufügen: „Tolles Wort, kann man dann vielleicht auch benutzen.“
„Kinder sind nicht die Treiber des Infektionsgeschehens, genauso wenig sind es die Restaurantbesucher”
In der Corona-Pandemie hätten wir es aber nun einmal mit einem neuen Virus zu tun, bei dem keine Altersgruppe sich eine Grundimmunität habe aufbauen können. Deshalb sei es auch nicht sinnvoll, bei Covid-19 überhaupt von irgendjemandem als „Nicht-Treiber“ oder „Treiber“ der Pandemie zu sprechen. Mit Blick auf Corona gelte: „Die Kinder sind nicht die Treiber des Infektionsgeschehens, genauso wenig sind es die Restaurantbesucher oder die Besucher von Opernhäusern oder die Mitarbeiter in Großbüros.“
Bei Kindern werde die Floskel aber stets genutzt. Drosten: „Das hinkt. Das ist kein sinnvoller Begriff. So sieht’s aus. Das kann man schon daran sehen, dass sich die Diskussion an der falschen Stelle erhitzt.“ Die entscheidende Frage sei eher: „Was haben wir hier für quantitative Beiträge – welchen Teil am R-Wert trägt diese Bevölkerungsgruppe bei? Schul- und Kita-Kinder stellen etwa 20 Prozent der Bevölkerung – also sind es 20 Prozent der Kontakte.“ Natürlich könne die Politik die Schulen komplett öffnen und Normalbetrieb erlauben, allerdings müsse sie dann eben auch entsprechend viele Infektionen in Kauf nehmen.
Drosten: „Wir sollten uns von dieser blöden Idee verabschieden, dass irgendeine Gruppe der spezielle Treiber des Geschehens sein könnte – und damit auch vom Umkehrschluss, dass, wenn jemand nicht der Treiber ist, der dann auch keine Relevanz im Infektionsgeschehen hat. Es leisten alle den gleichen Beitrag zu diesem Problem.“ Wenn man sich die Schulen anschaut, dann bedeute das eben, dass Infektionen dort so häufig aufträten wie im Rest der Bevölkerung.
„In einem Drittel aller Klassen sitzen ein oder mehr akut infizierte Schüler“
Dieser Befund werde aktuell auch von einer Charité-Studie gestützt, die fälschlicherweise in den Medien als Beleg dafür verkauft werde, dass der Schulbetrieb weitgehend unbedenklich sei (tatsächlich titelte zum Beispiel die B. Z. vergangene Woche: „Studie der Charité zeigt: Kaum Corona-Infektionen in Berliner Schulen und Kitas“). Dabei zeige die Studie, so Drosten, das Gegenteil auf. Sie bestätige, dass nach den Herbstferien das Infektionsgeschehen an den Schulen sich drastisch verstärkt habe – auf ein hohes Niveau. „In einem Drittel aller Klassen sitzen ein oder mehr akut infizierte Schüler“, sagt Drosten und betont mit Blick auf die Debatte um sichere Schulen: „Für mich ist dieses Thema infektionsepidemiologisch beantwortet.“
So ist es nach den Feiertagen. Bei Schülern sinkt die Prävalenz, bei Erwachsenen steigt sie (beachte: 35-49=Eltern). Bestehen immer noch Zweifel an der Rolle des Schulbetriebs bei der Verbreitung von SARS-CoV-2? https://t.co/ifK45QAqv9 pic.twitter.com/OANT4GMnjP
— Christian Drosten (@c_drosten) January 8, 2021
Als Konsequenz fordert er (ohne die Kultusminister direkt anzusprechen), „sich zu befreien von einer zur ‚Selbstbestätigungsschleife’ gewordenen Argumentation, dass die Kinder außen vor sind. Wir brauchen jetzt nicht versuchen, wissenschaftliche Daten anders zu interpretieren, als sie nun einmal sind: Es ist da.“ Dann ließe sich auch eine ehrliche Diskussion darüber führen, ob in der Abwägung die gesellschaftlichen Kosten von Kita- und Schulschließungen als zu hoch betrachtet würden – und was stattdessen unternommen werden könne, um das Infektionsrisiko im laufenden Betrieb so niedrig wie möglich zu gestalten. Drosten: „Das wäre vielleicht die bessere Herangehensweise.“
Hier geht es zum aktuellen NDR-Podcast von Prof. Drosten.
