Von News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek.
BERLIN. Per Videokonferenz tagen die verantwortlichen Politiker Deutschlands, um über das Schicksal des Landes in den kommenden Wochen – und womöglich weit darüber hinaus – zu entscheiden. Und heraus kommt: nichts, jedenfalls nichts Substanzielles. Kein Stufenplan, keine verbindlichen Regelungen, kein präventiver Gesundheitsschutz. Stattdessen: Kita- und (Grund-)Schulöffnungen ohne sinnvolles Konzept. Sind unsere Ministerpräsidenten überhaupt fähig, den Ernst der Lage zu begreifen, so muss man nach dem gestrigen Bund-Länder-Gipfel ernsthaft fragen. Die Antwort lautet, fürchte ich: nein.
Willkommen in Absurdistan. Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil will jetzt – allen Ernstes – Spürhunde in die Schulen schicken, um dort gegen Corona zu kämpfen. Um die Ansteckungsgefahr bei geöffneten Schulen und Kitas zu verringern, baue der SPD-Politiker auf neue Schnelltests, so berichtet die Wirtschaftswoche. Mit denen sollen offenbar Lehrer und Schüler ausgestattet werden. Das Blatt zitiert den Regierungschef wörtlich mit folgender Aussage: „Ich hoffe und setze bald auf bessere, auf einfachere Schnelltests, bei denen kein tiefer Nasen- oder Rachenabstrich mehr nötig ist. Sogar Spürhunde, die die Auswirkung einer Coronainfektion auf den menschlichen Stoffwechsel wittern können, sind vielleicht demnächst einsetzbar.“
„Der Lockdown light im November war falsch, die Einschränkungen gingen nicht weit genug“
Soso, Spürhunde – „vielleicht“ und „demnächst“. Lässt sich Hilflosigkeit im Umgang mit Corona deutlicher zum Ausdruck bringen? Auch eine weitere aktuelle Meldung gibt einen Eindruck davon, wie weit weg die Landesregierungen mittlerweile vom Planeten Erde und den Niederungen der Probleme in der Pandemie schweben. Berlin, so kündigte der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) gestern an, werde Luftfilter für die Berliner Schulen anschaffen – bis zum Sommer sollen insgesamt 7.500 Geräte im Einsatz sein. Das ist löblich. Aber, erstens, sind das leider immer noch deutlich zu wenige (Berlin hat rund 900 Schulen, und die allermeisten dürften über mehr als acht Klassenräume verfügen) – und, zweitens, kommen sie um ein ganzes Jahr zu spät…
Zu den Irrlichtern gehört derzeit auch Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne). Der räumte erst in der vergangenen Woche Fehler im Corona-Krisenmanagement ein. „Der Lockdown light im November war falsch, die Einschränkungen gingen nicht weit genug“, sagte er. Zur Erinnerung: Die Ministerpräsidenten hatten seinerzeit gegen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) durchgesetzt, dass Kitas und Schulen weit offen bleiben sollen. Kretschmann: „Von Teilen der Wissenschaft hatten wir die Ansage, dass das genügen könnte. Das war aber ein Irrtum.“ Und was passiert vier Tage nach diesem Eingeständnis? Kretschmann lässt – gegen Merkels Drängen und gegen den Rat von seriösen Wissenschaftlern – ankündigen, dass die Kitas und Grundschulen in Baden-Württemberg ab dem 22. Februar wieder öffnen sollen.
Muss man das verstehen? Ist es vertrauenserweckend, wenn ein Ministerpräsident wie der Thüringer Bodo Ramelow (Linke) sich mit großer Geste Asche aufs Haupt streut und in einem Interview einräumt, er habe bei der Einschätzung der Pandemie, anders als Merkel, falsch gelegen – um dann nur wenige Tage später die Kanzlerin vor Publikum zu veralbern? Ramelow hatte erklärt, dass er schon im Oktober auf Merkels mahnende Worte hätte hören müssen, die er persönlich und die anderen Länderchefs aber damals „als Belästigung empfunden“ habe (Merkel drängte schon seinerzeit auch auf Einschränkungen im Schulbetrieb). Er habe stets mildere Maßnahmen präferiert „und das war falsch“. So weit, so ehrenwert.
Kurz darauf allerdings überraschte Ramelow dann mit einem Auftritt beim Social-Media-Dienst Clubhouse, wo er die Kanzlerin als „Merkelchen“ bezeichnete – und freimütig zum Besten gab, dass er in den Gipfelrunden gerne auch mal „Candy Crush“ auf dem Handy spiele, wenn ihm dabei langweilig werde. Dass der Ministerpräsident mittlerweile Schulöffnungen ab einer Inzidenz unter 100 für möglich hält (während die Kanzlerin nach wie vor dringend davor warnt), sei hier nur am Rande erwähnt. Der Irrsinn ermüdet.
Nur zur Erinnerung: Es geht ums mögliche Sterben Zehntausender
Liebe Ministerpräsidenten – setzt auf Schnüffelhunde, bestellt Luftfilter für 2028, redet heute so und handelt morgen anders, spielt auch gerne lustige Games auf dem Smartphone, während es um das Schicksal Deutschlands geht. Alles kein Problem. Jedenfalls dann nicht, wenn ihr derweil die Kanzlerin und ihre Wissenschaftler das tun ließet, was nötig wäre, um diese Pandemie in den Griff zu kriegen. Nur zur Erinnerung: Es geht ums mögliche Sterben Zehntausender. Die Virologin Prof. Melanie Brinkmann hat ausgerechnet, dass eurer Widerstand gegen Schulschließungen und andere Schutzmaßnahmen im November 30.000 Menschen das Leben gekostet hat.
Dummerweise tut ihr das nicht. Ihr blockiert alles, was für Kitas und Schulen nöttäte und Deutschland aus dieser Krise heraus helfen würde: einen bundesweiten Stufenplan, der ein Mindestmaß an Planbarkeit ermöglichen würde, Schutzmaßnahmen, die Ansteckungen im Betrieb mit Kindern und Jugendlichen wirksam verhindern, und Perspektiven für die Bildung in der Zeit nach der Pandemie, die helfen würden, jetzt den Druck vor allem auf Elternseite mal rauszunehmen (zum Beispiel: Was gedenkt ihr zu tun, um möglicherweise entstandene Lücken bei einzelnen Schülern aufzufüllen?). Eure fehlende Ernsthaftigkeit in der Sache wird langsam zu einem echten Problem.
Noch ein Beispiel gefällig? Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) – der im vergangenen Jahr auch mal viel Verständnis für Corona-Leugner geäußert hatte – besuchte unlängst die Covid-19-Intensivstation im Klinikum Dresden. Als er die nach zwei Stunden verließ, wirkte er nachdenklich, berichteten Medien. Er habe sehen können, welch furchtbaren Verlauf diese Krankheit nehmen könne, habe aber auch den Lebenswillen Betroffener gespürt, sagte der ergriffene Landesvater. Kretschmer dankte Ärzten, Schwestern und Pflegern für ihren unermüdlichen Einsatz.
Am Dienstag dieser Woche dann, also noch vor dem gestrigen Bund-Länder-Gipfel, kündigte Kretschmer bereits die Öffnung der Kitas und Grundschulen im Freistaat für kommenden Montag an – in voller Klassenstärke, ohne Abstandsregel. Der Ministerpräsident erklärte dazu: „Viele Kinder freuen sich darauf.“ Na, dann… müssen die unermüdlichen Ärzte, Schwestern und Pfleger auf den Intensivstationen wohl noch ein bisschen weiter Einsatz zeigen.
Sachsens Gesundheitsämter meldeten gestern übrigens 83 neue Corona-Todesfälle. Der Freistaat liegt damit, bezogen auf die Einwohnerzahl, bundesweit an der traurigen Spitze: Seit Beginn der Pandemie wurden insgesamt 7.030 an Corona erkrankte Menschen in Sachsen als verstorben gemeldet. Nur mal zur Erinnerung. News4teachers
Der Journalist und Sozialwissenschaftler Andrej Priboschek beschäftigt sich seit 25 Jahren professionell mit dem Thema Bildung. Er ist Gründer und Leiter der Agentur für Bildungsjournalismus – eine auf den Bildungsbereich spezialisierte Kommunikationsagentur, die für renommierte Verlage sowie in eigener Verantwortung Medien im Bereich Bildung produziert und für ausgewählte Kunden Content Marketing, PR und Öffentlichkeitsarbeit betreibt. Andrej Priboschek leitete sieben Jahre lang die Öffentlichkeitsarbeit des Schulministeriums von Nordrhein-Westfalen.
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Anstelle eines Kommentars zur Schulpolitik: Ein persönlicher Brief an die Ministerpräsidenten
