BERLIN. Von 300 auf 19.200 – so hat die Kanzlerin einmal die Entwicklung der Neuinfektionen vorgerechnet. Dahinter steckt ein Klassiker des Schulunterrichts: die Exponentialfunktion. So wird in diesen Tagen wieder einmal besonders deutlich, wie wichtig ein mathematisches Grundverständnis ist. Am Sonntag ist Welttag der Mathematik.
Bei ihrer letzten Schulstunde dürften viele gemeint haben, dass der Umgang mit mathematischen Kurven und Funktionen nun hinter ihnen liegt. Doch seit mehr als einem Jahr erscheint ein Klassiker aus Schulzeiten in Zeitungen, Nachrichtenportalen und TV-Nachrichten: die Exponentialfunktion. Etwa in Kurven zu Neuinfektionen oder zur Belegung von Krankenhaus-Intensivbetten, die mal steil nach oben gehen, dann wieder sinken, abflachen oder Plateaus bilden.
Die Mathematik soll «helfen, die Ausbreitung des Virus zu verstehen, zu überwachen und zu kontrollieren», heißt es von der Internationalen Mathematischen Union (IMU) in Berlin anlässlich des Welttages der Mathematik. Er wird am Sonntag (14. März) zum zweiten Mal begangen und wurde zuvor vielfach bereits als Pi-Tag gefeiert – in Anspielung auf die amerikanische Datumsschreibweise 3/14. Diese erinnert an den Wert der Zahl Pi (3,14159…), die das Verhältnis des Umfangs eines Kreises zu seinem Durchmesser beschreibt. Auch ein Mathe-Klassiker.
Mit mathematischen Kurven und Funktionen sind alle möglichen physikalischen und biologischen Gesetze darstellbar. Gerade in der Corona-Krise zeigt sich das eindrücklich. «Wenn Sie mich fragen, was ist das, was mich beunruhigt, dann ist das der exponentielle Anstieg», hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel im Herbst 2020 mit Blick auf die damaligen Neuinfektionen gesagt.
Und kaum eine Szene hat sich mehr eingebrannt als ihre Aufzählung bei einer Pressekonferenz am 29. September: Über die Monate Juli, August und September hätten sich die täglichen Neuinfektionszahlen dreimal verdoppelt, sagte die promovierte Physikerin, «300 auf 600, 600 auf 1200 und 1200 auf 2400». Setze sich dieser Anstieg über Oktober, November und Dezember fort, «würden wir von 2400 auf 4800, auf 9600, auf 19.200 kommen».
Merkels Prognose vom September ist letztlich nicht eingetreten – es wurde weitaus schlimmer
Mit Blick auf Weihnachten klang das nach Horrorszenario. «Sie wollte ja deutlich warnen», sagt Alexander Mielke von der Humboldt-Universität zu Berlin und dem Weierstraß-Institut für Angewandte Analysis und Stochastik. «Diese Modellrechnung finde ich perfekt», so der Mathematikprofessor. Allerdings ist Merkels Prognose letztlich nicht eingetreten – es wurde weitaus schlimmer: Die 19.200 innerhalb eines Tages gemeldeten Neuinfektionen wurden schon rund fünf Wochen nach der Pressekonferenz erreicht, nicht erst drei Monate später.
In der Schule basieren Funktionen auf Formeln. «Die Corona-Zahlen sind hingegen datenbasierte Kurven», sagt Mielke. Es gebe keine endgültige Gleichung, um sie zu beschreiben. «Sonst könnten wir nämlich die Werte etwa für den 7. Oktober 2021 ausrechnen.» Die Kurve werde zum Beispiel von politischen Entscheidungen beeinflusst. Auch das Verhalten der Menschen spielt eine Rolle und zumindest ein bisschen auch die Jahreszeit.
Klar ist jedenfalls: Glücklicherweise kann eine stark steigende Kurve auch wieder sinken – und auch das kann exponentiell verlaufen. Den Wendepunkt in Deutschland brachten strengere Lockdown-Regelungen: Nach Weihnachten sank die Zahl bundesweiter Neuinfektionen je 100 000 Einwohnern innerhalb von sieben Tagen, die sogenannte 7-Tage-Inzidenz, wieder: von 196 am 24. Dezember auf knapp 57 am 19. Februar.
«Wenn wir jetzt bei einer Inzidenz von unter 70 bleiben, würde ich das nicht als Welle bezeichnen»
Seither allerdings stockt der Rückgang – Experten zufolge wohl zumindest zum Teil durch die immer dominierender werdende britische Variante, aber auch durch das nachlassende Durchhaltevermögen der Menschen, sich weiter an alle Regeln zu halten. Kanzlerin und Experten warnen vor einer drohenden dritten Pandemie-Welle. «Die dritte Welle beginnt dann, wenn wir nach dem Minimum sind», so Mielke. Die aktuellen Zahlen gingen zwar wieder leicht nach oben, allerdings nicht signifikant. «Wenn wir jetzt bei einer Inzidenz von unter 70 bleiben, würde ich das nicht als Welle bezeichnen.»
In der Pandemie stellt die Mathematik «ihre Modelle und Werkzeuge zur Verfügung», heißt es von der IMU. Sie hat sich für die Einführung des Welttages der Mathematik bei der Unesco stark gemacht. Seinerzeit mit dabei: Alexander Mielke. Hauptsächlich gehe es darum, die Sichtbarkeit der Disziplin für die moderne Gesellschaft zu fördern, so der Forscher. «Die Mathematik ist eine Schlüsseltechnologie, die fundamental ist für die wirtschaftliche Entwicklung – insbesondere auch in Schwellen- und in Entwicklungsländern.» Von Sebastian Fischer, dpa
Hier geht’s zur Website des Welttags der Mathematik.
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