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Mit Anlauf: Wie uns die Kultusminister in die Katastrophe steuern

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Ein Kommentar von News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek

BERLIN. Bei steigenden Infektionszahlen, einer sich extrem schnell ausbreitenden Virusmutation und unzureichenden Schutzmaßnahmen in den Klassenräumen will ein Großteil der Bundesländer in den nächsten Tagen die Schulen weit öffnen. Kann das gutgehen?

News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek. Foto: Tina Umlauf

Kurz vor dem absehbaren Punkt, ab dem wir die Pandemie weitgehend im Griff haben werden (wohl ab Spätsommer), lassen die Kultusminister das Bildungssystem mit Millionen von Schülern und Lehrern Anlauf nehmen – um es mit Vollgas vor die Wand zu fahren. Statt das zu tun, was für die Sicherheit der ihnen anvertrauten Menschen nötig wäre, sind die verantwortlichen Politiker mit sich selbst beschäftigt. Das gilt seit nunmehr einem Jahr und wird sich in diesem Superwahljahr wohl noch weiter steigern.

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… dass ich es versäumt habe, mich zuvor um ein Konzept für die Schnelltests unter Schülern und Lehrern zu kümmern? Egal

Wie schaffe ich es, möglichst wenige Wähler zu vergrätzen? Indem ich zunächst mal verschleiere, dass ich meinem Schutzauftrag gegenüber Schülern und Lehrern nicht im Mindesten gerecht werde. Hab’ halt gedacht, die Chose würde sich schnell von selbst erledigen.

Deshalb werden von mir alle Gefälligkeitsstudien, die die Schulen für sicher erklären, öffentlich hervorgehoben und in Eltern- und Lehrerbriefen weitergetragen – so dünn die Datenbasis auch sein mag. Deshalb lasse ich in Pressemitteilungen zu Expertenanhörungen, die ich aufgrund des öffentlichen Drucks schon mal veranstalten muss, die kritischen Aussagen streichen. Deshalb verschwindet eine Studie, die nun gerade wirklich nicht passt, zu einem Superspreader-Ereignis in einer Schule in meiner Schublade. Deshalb veröffentliche ich lieber Zahlen zu Infektionen in Schulen, die schön klein aussehen – in Prozentwerten mit vielen Nullen. Deshalb erkläre ich Luftfilter für technisch zweifelhaft, obwohl der Landtag nebenan gerade damit ausgestattet wurde. Deshalb rede ich ununterbrochen davon, dass es bei Schulöffnungen um arme, förderbedürftige Kinder geht, die mich sonst, ehrlich gesagt, nicht die Bohne interessieren. Deren Eltern wählen mich ja sowieso nicht.

Ein öffentlich verkündeter Stufenplan, der Schutzmaßnahmen an Inzidenzwerte koppelt – wie vom Robert-Koch-Institut empfohlen? Hätte mein Tun nachvollziehbar und mich verantwortlich gemacht. Dabei muss ich doch hin und wieder bei meinen Wählern punkten. Wie soll das denn gehen, wenn ich keine Wohltaten verkünden kann, weil ich mich an einen Plan halten muss?

Mmmmh, eine neue Umfrage hat ergeben, dass immer mehr Bürger die Einschränkungen kritisch sehen… Also beschließe ich mal auf die Schnelle Schulöffnungen für alle. Dann freuen sich die Kinder, und das bringt deren Eltern besser drauf.

Dass ich es versäumt habe, mich zuvor um ein Konzept für die versprochenen Schnelltests unter Schülern und Lehrern zu kümmern? Egal – merkt keiner. Ist sowieso gerade ein wildes Durcheinander. Und im Zweifel war dann eben mal wieder der Spahn schuld, der sich nicht früh genug darum gekümmert hat, genug Schnelltests für die Kitas und Schulen zu besorgen. Steigende Infektionszahlen? Jetzt nerven Sie mich doch nicht schon wieder mit diesem statistischen Zeugs…

„Sie erinnern sich vielleicht, dass vor einigen Monaten noch manche behauptet haben, Kinder sind nicht ansteckend…”

Dumm nur: Die Wirklichkeit lässt sich nicht so einfach verschleiern. Zu offenkundig ist das Staatsversagen beim Betrieb der Bildungseinrichtungen (nicht nur) in Corona-Zeiten. Kommt Deutschland um die dritte Welle herum? Diese Antwort ist leicht zu geben – zu einhellig ist das Votum der Wissenschaft: Nein, wir werden nicht davonkommen. Lediglich Zeitpunkt und Ausmaß der Flut sind noch offen und beeinflussbar. Unabhängig davon, ob die dritte Welle erst bevorsteht oder wir uns schon im dazugehörigen langsamen Anstieg befinden – die Infektionszahlen in Deutschland werden in den nächsten Wochen wieder deutlich klettern, und die Öffnungen von Kitas und Schulen tragen wesentlich zu dieser absehbaren Entwicklung bei.

Bemerkenswert offen zeigte sich Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz Anfang der Woche. Er erklärte, nach vier Wochen Erfahrung mit offenen Kitas und Schulen im Schichtbetrieb und Schnelltests: „Sie erinnern sich vielleicht, dass vor einigen Monaten noch manche behauptet haben, Kinder sind nicht ansteckend. Oder: In der Schule kann nichts passieren. Trotz der Testungen, die wir in der Schule durchführen, ist es so, dass mittlerweile die Kinder und Jugendlichen die sind mit den höchsten Ansteckungszahlen im Moment.“ Österreich wird in der kommenden Woche wohl wieder über einen Inzidenzwert von 200 klettern. So viel Ehrlichkeit ist in einigen Wochen von deutschen Kultusministern allerdings nicht zu erwarten. Ein Inzidenzwert über 200 schon.

Wird wahrscheinlich bei uns noch schneller gehen als in Österreich, weil ich vergessen habe, die doofen Tests in ausreichender Menge zu bestellen. Vielleicht gibt’s noch ein paar beim Aldi. Aber egal, wir öffnen schon mal alles. Hauptsache, die Schulen sind auf und die nervenden Eltern entspannen sich wieder – es geht doch einfach nichts über Präsenzunterricht.

Der Autor

Der Journalist und Sozialwissenschaftler Andrej Priboschek beschäftigt sich seit 25 Jahren professionell mit dem Thema Bildung. Er ist Gründer und Leiter der Agentur für Bildungsjournalismus – eine auf den Bildungsbereich spezialisierte Kommunikationsagentur, die für renommierte Verlage sowie in eigener Verantwortung Medien im Bereich Bildung produziert und für ausgewählte Kunden Content Marketing, PR und Öffentlichkeitsarbeit betreibt. Andrej Priboschek leitete sieben Jahre lang die Öffentlichkeitsarbeit des Schulministeriums von Nordrhein-Westfalen.

In eigener verlegerischer Verantwortung bringt die Agentur für Bildungsjournalismus tagesaktuell News4teachers heraus, die reichweitenstärkste Nachrichtenseite zur Bildung im deutschsprachigen Raum mit (nach Google Analytics) mehr als 100.000 Seitenaufrufen täglich und einer starken Präsenz in den Sozialen Medien und auf Google. Die Redaktion von News4teachers besteht aus Lehrern und qualifizierten Journalisten. Neben News4teachers produziert die Agentur für Bildungsjournalismus die Zeitschriften „Schulmanager“ und „Kitaleitung“ (Wolters Kluwer) sowie „Die Grundschule“ (Westermann Verlag). Die Agentur für Bildungsjournalismus ist Mitglied im didacta-Verband der Bildungswirtschaft.

Hier geht es zur Seite der Agentur für Bildungsjournalismus.

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