BERLIN. „Schulen sind keine Treiber der Pandemie“ – mit dieser Behauptung versuchen Kultusminister immer wieder, die Öffnung von Schulen zu begründen (oder umgekehrt: deren Schließung zu verhindern). Sie berufen sich dabei, wie unlängst die Saarländische Bildungsministerin Christine Streichert-Clivot (SPD) auf vermeintlich fachlichen Rat. „Auch maßgebliche medizinische Fachgesellschaften betonen, dass mit den im Saarland bestehenden Hygiene- und Infektionsschutzregelungen Kitas und Schulen selbst bei hohen Infektionszahlen geöffnet sein und sicher betrieben werden können“, so schreibt sie in einem Elternbrief. Aber stimmt das denn überhaupt? Was sagt die Wissenschaft? Wir haben mit einem Forscher gesprochen: Prof. Dr. Markus Scholz vom Institut für Medizinische Informatik, Statistik und Epidemiologie der Universität Leipzig. Und er betrachtet die Entwicklungen an den Kitas und Schulen mit großer Sorge.
News4teachers: Sie beobachten die Entwicklung des Corona-Geschehens in Sachsen – und werfen dabei auch einen Blick darauf, was in Kitas und Schulen passiert. Ist auf andere Bundesländer übertragbar, was Sie in Sachsen herausfinden?
Scholz: Wir betrachten spezifisch die Entwicklung in Sachsen, aber wir schauen natürlich, weil wir eine gesamt-epidemiologische Modellierung betreiben, auf die Gesamtdatenlage, nicht nur in Deutschland, sondern auch weltweit. Sachsen ist nur ein Aspekt unserer Arbeit. Dieses sächsische Projekt ist speziell für die Beratung der Landesregierung gedacht. Aber natürlich schauen wir uns die Lage insgesamt an.
News4teachers: Auf welcher Grundlage – mit den offiziellen Daten der Gesundheitsämter oder erheben Sie selber Daten?
News4teachers: Nun kommen manche Mediziner, so zum Beispiel das Landesuntersuchungsamt Rheinland-Pfalz im Rahmen einer unlängst veröffentlichten Studie (News4teachers berichtete ausführlich darüber – hier), zu der Meinung: Es finden in Kitas und Schulen nicht viele Infektionen statt. Sie kommen zu einer anderen Einschätzung …
Scholz: Da gibt es drei verschiedene Aspekte. Diese Studie, auf die Sie sich beziehen, beruht auf den Daten der Gesundheitsämter. Da haben wir Zweifel bezüglich der Vollständigkeit der Datenlage. Zumindest in der Hochphase der Pandemie ist die Kontaktverfolgung teilweise zusammengebrochen. Fraglich ist auch, ob zu dieser Zeit tatsächlich alle Kontaktpersonen ersten Grades getestet wurden. Ich weiß, dass das in Sachsen teilweise nicht mehr geschehen ist, dass es also gerade für die Hochphase, als es die meisten Infektionen gab, eine möglicherweise stark eingeschränkte Datenlage gibt. Bessere Daten gibt es tatsächlich in Deutschland nicht, weil es keine begleitenden Forschungsprojekte gibt, die in einer großen Anzahl von Schülern immer wieder testen würde und dann auch bei Ausbrüchen alle Kontakte testet. Da hat zum Beispiel Großbritannien ein viel, viel besseres begleitendes Konzept.
Das ist der eine Aspekt. Der andere Aspekt ist, dass es tatsächlich so war, dass wir in der ersten Welle ganz wenig Fälle bei den Kindern und Jugendlichen hatten. Also da war dieser Altersbereich fast gar nicht betroffen. Daher kommt nach meiner Interpretation diese Einschätzung, dass bei Kindern kein Problem besteht. Das hat sich aber in der zweiten Welle drastisch geändert.
News4teachers: Und wie?
“Das Virus entwickelt sich aufgrund der neuen Variante noch gravierender unter Kindern und Jugendlichen”
Scholz: Wir haben in der zweiten Welle einen massiven Eintrag in die Gruppe der Kinder und Jugendlichen gesehen und dort sehr hohe Inzidenzen erreicht. In der jetzt laufenden dritten Welle ist dieser Trend noch stärker. Das ist auch die Beobachtung, die wir aus anderen europäischen Ländern wie Großbritannien haben, nämlich dass sich das Virus aufgrund der neuen Variante noch gravierender unter Kindern und Jugendlichen entwickelt. Diese rheinland-pfälzische Studie hat diese neuen Varianten ja gar nicht im Kalkül haben können, weil es in der zweiten Welle damit noch keine Fälle gab.
Und dann muss man auch noch sagen, das ist der dritte Aspekt, in der Studie wurde die Secondary Attack Rate, also die Wahrscheinlichkeit, wie sich eine Infektion auf andere Schüler oder Lehrer überträgt, in dem Schulkontext mit 1,5 Prozent geschätzt – und das wurde als geringes Risiko beschrieben. 1,5 Prozent Wahrscheinlichkeit bei Kindern und Jugendlichen klingt zwar erst einmal wenig. Man muss aber sehen, dass in Kitas und Schulen ja sehr viele Kontakte entstehen. Wir haben in Schulen komplexe Netzwerke, große Cluster, die man im Detail nicht alle nachverfolgen kann. Das ist nicht so wie im Haushalt. Wenn ich bloß mit drei Personen Kontakt habe, dann sind 1,5 Prozent nicht viel. Aber wenn man mit sehr, sehr vielen Personen Kontakt hat und das über Cluster, die ansonsten überhaupt keinen Kontakt miteinander hätten, dann hat das schon eine Auswirkung. Das gibt diese Zahl, die dort geschätzt wurde, nicht wieder. Deswegen sollte man da auch vorsichtig mit der Interpretation sein, ob das jetzt wenig oder viel ist.
News4teachers: Was halten Sie denn von dem Mantra der Kultusminister – das ja auch im Zusammenhang mit dieser Studie wiederholt wurde – „Schulen sind keine Treiber der Pandemie“?
Scholz: Dazu muss man sagen, dass der Begriff „Treiber“ ja gar nicht definiert ist. Was ist denn ein „Treiber“? Das bedeutet wohl, dass das irgendwie die einzige Ursache für die Pandemie ist. Das sind Schulen und Kitas sicherlich nicht. Aber sie sind ein wesentlicher Faktor – und die Datenlage dafür ist nach meinem Dafürhalten international überwältigend. Große Meta-Analysen belegen inzwischen, dass Schulschließungen einen wesentlichen bremsenden Effekt auf die Pandemie haben.
News4teachers: Im Umkehrschluss heißt dies, dass offene Schulen die Pandemie beschleunigen?
Scholz: Ja. Allerdings muss man einschränken: Die Studien sagen uns natürlich nicht, wo diese Infektionen genau stattfinden – ob jetzt in der Schule, vor der Schule, auf dem Weg dahin oder durch Elternkontakte. Das kann man nur sehr schwer aufdröseln. Aber ob Schulen geöffnet oder geschlossen sind, das hat einen deutlichen Effekt auf die Pandemie. Das zeigen alle Daten, alle Meta-Analysen. Es gibt eine US-Studie, die das sehr detailliert analysiert – und die zeigt, dass dieser Effekt vor allen Dingen dann relevant ist, wenn es ein hohes Infektionsgeschehen im Umfeld gibt. Das erklärt auch den Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Welle. In der ersten Welle hatten wir ein geringes Infektionsaufkommen, selbst im Höhepunkt – jetzt aber haben wir trotz Lockdown immer noch ein sehr hohes Infektionsaufkommen, deswegen ist die Situation ganz anders als in der ersten Welle zu bewerten.
“Wenn die Schulen ohne ausreichende Schutzmaßnahmen geöffnet werden, steigen die Zahlen wieder”
Dies zeigen auch einzelne Studien etwa aus Großbritannien, die ja eine wirklich sehr gute wissenschaftliche Begleitung des Geschehens in Schulen haben. In Großbritannien stiegen die Zahlen bei den Kindern und Jugendlichen im Lockdown massiv an, solange die Schulen offengeblieben sind und sanken erst, nachdem sie geschlossen wurden. Das haben wir auch in Deutschland gesehen. Erst nachdem die Schulen geschlossen wurden, begannen die Fallzahlen zu sinken. Das hat also einen deutlichen Effekt gebracht – und jetzt, wenn die Schulen ohne ausreichende Schutzmaßnahmen geöffnet werden, das sehen wir in Sachsen sehr deutlich, steigen die Zahlen wieder.
News4teachers: Was genau beobachten Sie in Sachsen?
Scholz: Das eine wirklich erschreckende Entwicklung, die wir dort sehen. Seit dem 15. Februar sind die Grundschulen in Sachsen geöffnet – ohne Masken im Klassenzimmer, ohne Luftfilter in den Klassenräumen und ohne Testkonzepte, also praktisch im gleichen Modus wie im Sommer, als wir eine ganz niedrige Inzidenzlage hatten. Und seitdem die Schulen geöffnet sind, steigen dort im Alterssegment der Schüler die Zahlen rapide. Wir hatten dort innerhalb von nur 3 Wochen eine Verdreifachung der Inzidenz, während alle anderen Altersgruppen nicht oder nur minimal stiegen. Das betrifft auch den Kita-Bereich. Auch bei den Kleinkindern steigen die Infektionszahlen massiv an.
Ums nochmal zu betonen: Die anderen Altersgruppen blieben fast gleich und steigen erst seit Kurzem wieder deutlich. Das ist ein klares Zeichen, dass es Infektionen unter Kindern gibt und nicht nur Übertragungen von Erwachsenen auf Kindern, wie immer wieder behauptet wird, denn dann müssten die Zahlen auch bei den Erwachsenen eher steigen. Es ist offenbar umgekehrt: Die Zahlen steigen zuerst bei den Kindern – und jetzt steigen sie in der Folge davon auch langsam bei den Erwachsenen. Bei den Schulschließungen gab es übrigens den umgekehrten Effekt. Seinerzeit war es so, dass zuerst im Kinderbereich die Infektionszahlen zurückgingen und dann bei den Erwachsenen. Das ist ein weiterer Hinweis darauf, dass es Infektionen in den Schulen gibt, denn zu Hause haben die Schüler nicht weniger Kontakte gehabt. Der Lockdown lief ja bereits. Diese Entwicklungen zeigen deutlich, dass viele Infektionen aus den Kitas und Schulen kommen müssen. Wir sind sehr überzeugt davon, dass das ein wesentlicher Faktor in der Pandemie ist.
News4teachers: Infizierte Kinder und Jugendliche sind ja häufig asymptomatisch. Wird deshalb auch weniger getestet unter Kindern und Jugendlichen?
Scholz: Es ist nicht ganz klar, wie groß die Dunkelziffer ist. Aber wir wissen, dass die bei Kindern sehr viel höher ist als bei Erwachsenen. Eine Studie aus München hat die Dunkelziffer auf etwa Faktor 6 geschätzt, während wir bei Erwachsenen von etwa 2-3 ausgehen. Und wenn man das mit draufrechnet, dann sind Kinder und Jugendliche zurzeit die am stärksten von Covid-19 betroffene Altersgruppe.
News4teachers: Wie beurteilen Sie vor dem Hintergrund Ihrer Erkenntnisse diese aktuelle Schulöffnungspolitik?
Scholz: Die Schulen zu öffnen, ohne die Hygienekonzepte weiterzuentwickeln, das sehen wir sehr kritisch. Es ist ein hohes Risiko, was man da eingeht. Auch weil wir jetzt die neue Variante B.1.1.7 haben, die noch ansteckender ist. Inzwischen ist das, glaube ich, auch in der Politik zumindest teilweise angekommen. Testkonzepte werden jetzt implementiert, die den Betrieb deutlich sicherer machen würden. Die Schüler sollten wöchentlich getestet werden. Hoffentlich wird es dann auch bald so umgesetzt und zwar nicht nur an den höheren Schulen, sondern auch an den Grundschulen und im Kitabereich. Bisher ist das noch nicht der Fall, so dass betroffene Familien quasi schutzlos den Einträgen aus dem Schul- und Kitabereich ausgeliefert sind. Bei den Lehrern und Erziehern sind die Impfungen wichtig. Das ist eine sehr stark gefährdete Gruppe. News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek führte das Interview.
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