BERLIN. Die Corona-Krise hat bei vielen Lehrerinnen und Lehrern Ohnmachtsgefühle ausgelöst. Sie mussten sich Entscheidungen der Kultusministerien beugen, die erkennbar nicht am Gesundheitsschutz von Schülern und Lehrkräften ausgerichtet waren. So galt die „SARS-CoV-2-Arbeitsschutzverordnung“ des Bundesarbeitsministeriums für Kitas und Schulen ausdrücklich nicht. Dass der Staat mit seinem pädagogischen Personal so umgehen konnte, hat Gründe. Ein wesentlicher: das Beamtenrecht. Eine Lehrkraft aus Hessen, die ungenannt bleiben möchte, beleuchtet im folgenden Beitrag, wie weit die Einschränkungen im Grundrechtsschutz von verbeamteten Lehrkräften geht. Teil drei des dreiteiligen Beitrags: die Auswirkungen des eingeschränkten Grundrechtschutzes auf die Arbeitsbedingungen der verbeamteten Lehrerinnen und Lehrer.
- Hier geht es zum ersten Teil des Beitrags „Entrechtete Lehrer“: Wie das Beamtengesetz den Grundrechtsschutz seiner Staatsdiener einschränkt.
- Hier geht es zum zweiten Teil des Beitrags: Was das „besondere Gewaltverhältnis“ im Schuldienst bedeutet.
Die Auswirkungen des eingeschränkten Grundrechtschutzes auf die Arbeitsbedingungen der verbeamteten Lehrerinnen und Lehrer
Wie aber wirkt sich die Einschränkung ihrer Grundrechte in der Praxis heute auf viele Lehrerinnen und Lehrer aus?
Während Abordnungen und sogar Versetzungen von den betreffenden Lehrerinnen und Lehrern zwar meist nicht gerade mit Begeisterung, aber doch recht stoisch hingenommen werden, steckt der Teufel der Grundrechtschutzeinschränkungen im Detail, d. h. in den einzelnen, für Nicht-Insider oftmals überhaupt nicht sichtbaren, Aspekten des höchst vielschichtigen Lehrerberufs.
Kein Streikrecht führt zu katastrophalen Arbeitsbedingungen
So hat die Tatsache, dass Lehrerinnen und Lehrer der Streik als das einzig wirklich wirksame Instrument des Arbeitskampfes verwehrt ist, über die vergangenen dreißig Jahre dazu geführt, dass die Arbeitsbedingungen an sehr vielen deutschen Schulen sich derart verschlechtert haben, dass der Lehramtsberuf vermutlich für lange Zeit für Studienanfänger nicht mehr attraktiv sein dürfte.
Wer zunächst einmal eine Idee davon zu gewinnen will, welche politische Macht ein Streikrecht Lehrerinnen und Lehrern verleihen würde, muss sich nur einmal vor Augen führen, was ein landes- oder gar bundesweiter Lehrer-Streik für unsere Gesellschaft im Allgemeinen und für unsere Wirtschaft im Besonderen bedeuten würde: Nämlich Schulen, die möglicherweise tagelang geschlossen wären und die von hunderttausenden Schülerinnen und Schülern nicht betreten werden könnten, so dass ebenso viele Väter und Mütter nicht ihrer geregelten Arbeit nachgehen könnten! Und zwar ohne dass die Schüler/-innen während dieser Zeit ein Anrecht hätten auf Wechselunterricht, Digitalunterricht oder gar Notbetreuung.
Man darf wohl annehmen, dass angesichts derartiger Szenarien sowohl die Eltern als auch deren Arbeitgeber den Lehrer/innen dabei helfen würden, die verantwortlichen Politiker so unter Druck zu setzen, dass diese sich ernsthaft, und damit meine ich ernsthaft lösungsorientiert, mit den Problemen an der Basis auseinandersetzen müssten. Dann nämlich könnte kein Politiker mehr darüber hinwegsehen, dass sowohl Lehrer als auch Schüler an unseren Schulen mittlerweile oft katastrophalen Verhältnissen ausgesetzt sind, was nur noch durch eine sehr nachhaltige Verbesserung der Arbeitsbedingungen wieder positiv verändert werden kann.
Aufgrund des Streikverbots für Lehrer aber können und konnten sich die entsprechenden Politiker jahrzehntelang bequem zurücklehnen und die alarmierenden Zustände, die das deutsche Schulsystem mittlerweile vielerorts nahe an den Zusammenbruch geführt haben, mehr oder weniger ignorieren.
Dass sogenannte Überlastungsanzeigen (als die einzige den verbeamteten Lehrerinnen und Lehrern erlaubte Form, auf ihre katastrophalen Arbeitsbedingungen hinzuweisen) die (Bildungs-)Politiker aller Bundesländer in den meisten Fällen sehr wenig berühren, dürfte mithin allen Leser/innen dieser Seite bekannt geworden sein.
Zu dem Streikverbot gesellt sich für verbeamtete Lehrer außerdem die oben bereits erwähnte Verpflichtung zur Amtsverschwiegenheit, was dazu führt, dass Lehrer sich hinsichtlich ihrer Arbeitsbedingungen nicht gegenüber den Medien äußern dürfen.
Auf dieser Grundlage, also weil sich die Lehrerinnen und Lehrer an der Basis des deutschen Schulsystems in Bezug auf ihre Arbeitsbedingungen, bei aller noch so dringlichen Notwendigkeit, nicht auf wirksame Weise bei den verantwortlichen Politikern Gehör verschaffen dürfen, konnte es geschehen, dass die Republik in den derzeitigen Bildungsnotstand geraten ist, aus dem sie auch so schnell nicht mehr heraus gelangen dürfte.
Eingeschränkte Meinungsfreiheit führt in die Orientierungslosigkeit
Das deutsche Schulsystem wurde während des vergangenen Jahrzehnts einem Paradigmenwechsel unterworfen, bei dem es darum ging, den traditionellen Schwerpunkt, der bis dahin auf den in den Lehrplänen festgelegten, althergebrachten Wissensinhalten gelegen hatte, zu sogenannten “Bildungsstandards” und “Kompetenzorientierungen” hin zu verlagern.
Was uns Lehrkräften zu Beginn keine so große Sache zu sein schien, entpuppt sich mittlerweile als eine stille Zersetzung unseres altehrwürdigen, auf humanistischem Gedankengut basierenden Wissens- und Wertekanons und damit natürlich auch unseres althergebrachten Lehrerberufsbildes als dem Träger und Vermittler eben dieser humanistischen Gedanken und Leitbilder.
Für uns Lehrkräfte ist dies umso fataler, als dass uns mit der Zersetzung des humanistischen Weltbildes, das innerhalb der alten Lehrpläne noch seinen unverrückbaren Platz hatte, die einzige reale und allgemein verbindliche ethische Grundlage verloren geht, auf die wir verbeamteten Lehrkräfte uns – trotz unseres Neutralitätsgebots – bei der Arbeit mit unseren Schülerinnen und Schülern jederzeit berufen durften, und zwar sowohl in erzieherischer als auch in moralischer und philosophischer Hinsicht. [13]
Die Politik, die es niemals versäumt, Schulen mit immer neuen Vorschriften und Verordnungen zu überhäufen, hat es bis heute nicht fertig gebracht, uns Lehrerinnen und Lehrern brauchbare und vor allen Dingen allgemein verbindliche ethische Leitlinien an die Hand zu geben, und zwar abseits von meist zusammenhangslos hingeworfenen, politisch korrekten Phrasen, die selbst junge Schüler bereits als hohl und wenig überzeugend zu entlarven pflegen.
Lutz Bernhard , stellvertretender Chefredakteur der „Frankfurter Neuen Presse“, bringt in einem Artikel das Versagen der Politik in Bezug auf unser Bildungssystem treffsicher auf den Punkt:
„Was ist nur los an Hessens Schulen? … Die Überlastungsanzeigen folgen ganz konkret auf das Ausufern des Aufgabenspektrums der Lehrer. … Die größte Last ergibt sich … aus den Mammutaufgaben Integration und Inklusion. Hier wurden – zu Recht – gesellschaftspolitische Ansprüche formuliert. Aber … am Ende wird eine ehemals gut gemeinte Sache dann zum Brandsatz, wenn an der Basis keiner weiß, wie es denn gehen soll.
Weil Wunsch und Realität nicht zusammenpassen. Weil auf halber Strecke dann doch der politische Mut fehlt, sich mit der Praxis wirklich auseinanderzusetzen. … Es fehlen Leitlinien, die verbindlich regeln, wie genau beispielsweise Inklusion und Integration pädagogisch und organisatorisch umgesetzt werden sollen. Es fehlt vor allem aber die Bereitschaft seitens der Politik, sich ideologiefrei mit den Problemen an der Basis zu beschäftigen. Durch die Überlastung unserer Schulen pflanzt sich das Politikversagen in tausenden Schülerbiografien fort – und wird damit zum Nährboden für Demagogen.“ [14]
Die katastrophale Vorhersage, die Lutz Bernhard in seinem abschließenden Satz trifft und die sich an allen deutschen Schulen bereits zu vollziehen im Gange ist, könnte möglicherweise noch abgewandt werden, wenn es der Politik gelänge, das oben beschriebene ethische Vakuum wieder zu füllen mit Inhalten, die für alle Beteiligten nicht nur eine formale äußere, sondern auch eine inhaltliche innere Gültigkeit besäßen. Dazu jedoch wäre ein Sprung in eine alle Religionen und Ideologien umfassende Dimension notwendig, für den ich allerdings derzeit in keinem der politischen bzw. gesellschaftlichen Lager, und schon gar nicht der religiösen, irgendwelche Ansätze sehe.
Die Würde des Menschen geht unter im Chaos an unseren Schulen
Zwar mag es trotz der jeden gesunden Menschenverstand abschnürenden Beamtenknebeln vielen einzelnen Lehrerinnen und Lehrern noch gelingen, ihren Schülerinnen und Schülern kraft ihrer echten, inneren Menschlichkeit ein überzeugendes Leitbild vorzuleben und sich auf diese Weise bei ihren Schützlingen immerhin einigen Respekt zu erhalten. Aber je geringer der Spielraum dieser Lehrerinnen und Lehrer wird durch die wachsende Flut von Verordnungen von hoher und höchster Stelle und je weniger Zeit und Raum ihnen auf diese Weise für echte pädagogische Arbeit und Beziehungsbildung bleiben, desto geringer wird ihr Einfluss auf ihre Schülerinnen und Schüler werden, und desto stärker werden sie ihre Schülerinnen und Schüler dem heranbrandenden Chaos und der Orientierungslosigkeit, unter denen unser gesamtes Schulsystem mittlerweile hin und her wankt wie ein leckes Schiff im Sturm, anheimfallen lassen müssen.
Dass diesem Chaos aber als erstes die Würde des Menschen zum Opfer fallen wird, zeichnet sich an unseren Schulen bereits auf massive Weise ab: Aktuelle Studien zeigen, dass verbale und tätliche Angriffe auf Lehrerinnen und Lehrer, und natürlich auch auf Schülerinnen und Schüler, täglich an deutschen Schulen stattfinden, wobei sich die betroffenen Lehrerinnen und Lehrer gegen diese Übergriffe in sehr vielen Fällen nicht wehren können, weil sie an ihren Schulen nicht über wirksame Möglichkeiten zu pädagogischen Maßnahmen verfügen.[15]
Wenn aber die Lehrerinnen und Lehrer nicht mehr in der Lage sind, ihre eigene Würde im Klassenzimmer zu schützen, dann können sie auch nicht mehr die Würde der schwächeren unter ihren Schülerinnen und Schülern schützen vor den Angriffen der aggressiven Mobber und gewalttätigen Krakeler: Es ist ein offenes Geheimnis, dass es meist die freundlichen, sanften, sozial oftmals hochkompetenten und meist lern- und arbeitswilligen Schülerinnen und Schüler sind, die bei fehlender Durchsetzungskraft ihrer Lehrerkraft ihren aggressiven und destruktiven Klassenkameraden zum Opfer fallen, so wie diesen am Ende der gesamte Unterricht zum Opfer fällt.
Das staatliche (Schul-)System, welches es zulässt, dass seine Lehrerinnen und Lehrer als Repräsentanten der im Grundgesetz verankerten staatlichen Gewalt nicht mehr dazu in der Lage sind, die Würde ihrer Schützlinge zu schützen, weil sie sich selbst gegen die täglichen Angriffe aus den Reihen ihrer eigenen Schülerinnen und Schüler nicht mehr wirksam zur Wehr setzen können, missachtet somit die Würde derer, die seinem besonderen Gewaltverhältnis unterworfen sind: Nämlich die Würde der Lehrerinnen und Lehrer sowie die ihrer Schülerinnen und Schüler.
Es ist die tägliche und schreckliche Verletzung des Grundrechts auf die menschliche Würde, die mittlerweile so viele Lehrerinnen und Lehrer an deutschen Schulen verzweifeln und krank werden lässt.
Der Preis für ihre Planungssicherheit nimmt heute für viele Beamten selbstzerstörerische Züge an
Die meisten von uns Lehrerinnen und Lehrern aus der Baby-Boomer-Generation, die die Eltern der jetzigen angehenden Referendare und Referendarinnen sein könnten, sind in den Beamtenstatus hineingeschlittert, ohne dass wir uns allzu viele Gedanken darum gemacht hätten, welche grundlegenden Menschenrechte wir dafür aufgeben würden, einzig und allein aus dem Grunde, dass wir, wie ich es bereits oben erwähnt habe, nach unseren oft viele Jahre dauernden Zeitarbeits-Odysseen zu fast allem bereit waren, um Planungssicherheit zu erlangen.
Unseren Preis für diese damals so heiß ersehnte Sicherheit haben wir dann in den vergangenen zwanzig Jahren bezahlen müssen: Keine Möglichkeit, sich gegen beständig schlechter werdende Arbeitsbedingungen zu wehren, keine Möglichkeit, eigene Ideen und Überlegungen zu deren Verbesserung einzubringen, keine Möglichkeit, sich über das Versagen von Schule und Schulpolitik in angemessener Form äußern zu dürfen in der Öffentlichkeit. Keine Möglichkeit, angesichts dieser Umstände unsere innere Würde zu bewahren – denn ein Lehrer, der täglich erleben muss, wie er die Schwachen nicht mehr angemessen schützen kann, weil er selbst keinen Schutz mehr besitzt, verliert mit der Zeit jegliche Selbstachtung. Keine Möglichkeit, seine körperliche und seine seelische Gesundheit zu bewahren – in keinem anderen Beruf gibt es mehr Menschen, die wegen schwerer psychischer Erkrankungen vorzeitig ihren Dienst beenden müssen als im Lehrerberuf. Keine Möglichkeit, rechtzeitig zu kündigen und sich umschulen zu lassen – denn der Beamtenstatus ist auf “lebenslänglich” angelegt und bestraft all jene sehr schwer, die nach einigen Jahren merken, dass sie den hohen Preis, nämlich ihre Würde, nicht mehr zu zahlen bereit sind und die sich deshalb dazu entschließen, eine andere Berufslaufbahn zu ergreifen. News4teachers
- Hier geht es zum ersten Teil des Beitrags „Entrechtete Lehrer“: Wie das Beamtengesetz den Grundrechtsschutz seiner Staatsdiener einschränkt.
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[13] “§ 68 Politische Betätigung:
(1) Der Beamte hat bei Ausübung seines Rechts auf politische Betätigung diejenige Mäßigung und Zurückhaltung zu wahren, die sich aus seiner Stellung gegenüber der Gesamtheit und aus der Rücksicht auf die Pflichten seines Amts ergeben.
(2) Beamte haben sich im Dienst politisch, weltanschaulich und religiös neutral zu verhalten. Insbesondere dürfen sie Kleidungsstücke, Symbole oder andere Merkmale nicht tragen oder verwenden, die objektiv geeignet sind, das Vertrauen in die Neutralität ihrer Amtsführung zu beeinträchtigen oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Frieden zu gefährden.
Bei der Entscheidung über das Vorliegen der Voraussetzungen nach Satz 1 und 2 ist der christlich und humanistisch geprägten abendländischen Tradition des Landes Hessen angemessen Rechnung zu tragen.” (§68 HBG)
[14] http://www.fnp.de/nachrichten/meinung-der-redaktion/Schulpolitik-Ein-gesellschaftlicher-Stoerfall;art743,2936680
[15] https://www.sueddeutsche.de/bildung/umfrage-zu-gewalt-an-jeder-vierten-schule-werden-lehrer-taetlich-angegriffen-1.3964176
Entrechtete Lehrer: Wie das Beamtengesetz den Grundrechtsschutz seiner Staatsdiener einschränkt
