BERLIN. Eine neue Übersicht des Robert-Koch-Instituts bietet erstmals einen Überblick über das Ausbruchsgeschehen in Kitas und Schulen über die gesamte Pandemie hinweg. Die absoluten – offiziellen – Zahlen sind mit Vorsicht zu betrachten. Weil Kinder und Jugendliche selten Symptome zeigen, wurden sie lange Zeit kaum getestet. Außerdem konnten die Gesundheitsämter monatelang das Infektionsgeschehen wegen der zahlreichen Fälle nicht mehr nachvollziehen. Trotzdem wird deutlich: Von einem Corona-sicheren Kita- und Schulbetrieb kann keine Rede sein.
Seit nunmehr über einem Jahr beten die Kita- und Kultusminister immer die gleichen Behauptungen herunter. Tenor: Die Kitas und Schulen sind weitgehend Corona-sicher.
- „Wir Kultusministerinnen und Kultusminister sagen alle, dass Schulen keine Treiber des Infektionsgeschehens sind.“ (KMK-Präsidentin Britta Ernst, SPD, am 8. Januar 2021.)
- „Zwar wurden auch in Schulen Corona-Infektionen hereingetragen, bis heute hat es aber in den Klassen selbst keine großen Ausbrüche gegeben. Das hat erfreulicherweise bisher nicht stattgefunden.“ (Niedersachsens Kultusminister Grant Hendrik Tonne, SPD, am 8. März 2021.)
- Er warne davor, Kindertageseinrichtungen „als Pandemietreiber zu inszenieren“ und damit Ängste zu schüren, erklärte NRW-Familienminister Joachim Stamp (FDP) am 18. März 2021.
- „Dass das Infektionsgeschehen in Schulen natürlich auch immer da ist, das ist klar, aber nicht höher, nicht bedrohlich.“ (Die rheinland-pfälzische Bildungsministerin Stefanie Hubig, SPD, am 6. April 2021)
- „In keinem anderen Lebensbereich gelten so weitgehende Sicherheitsmaßnahmen wie in den Schulen.“ (Hamburgs Bildungssenator Ties Rabe, SPD, am 7. Juli 2021.)
Angefeuert wurden die Kultusminister dabei immer wieder von Kinderärzten. „Kitas und Schulen sind ganz sicher nicht die Treiber der Pandemie“, erklärte etwa Prof. Dr. med. Fred Zepp, ehemaliger Direktor des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin der Universität Mainz und Mitglied der Ständigen Impfkommission (Stiko), noch im Februar. „Auch nach dem Auftreten von Virusmutationen bleibt es dabei, dass Kinder und Jugendliche keine Treiber der Pandemie sind“, sagte auch der Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte, Dr. med. Thomas Fischbach, am 28. Februar.
„Der Begriff ‚Treiber der Pandemie‘ ist ja gar nicht definiert. Was ist denn ein ‚Treiber‘?“
Selbst das Robert-Koch-Institut (RKI) mischte mit – wenn auch deutlich vorsichtiger: Eine Analyse von Meldedaten und Studien lege nahe, dass Schülerinnen und Schüler „eher nicht als ‚Motor‘ eine größere Rolle spielen“, so heißt es in einem Ende Februar veröffentlichten RKI-Bericht (News4teachers berichtete ausführlich über das Papier). Allerdings wird konstatiert, dass es auch bei Kindern und Jugendlichen zu Übertragungen komme – und Ausbrüche in Kitas und Schulen verhindert werden müssten.
Der Ball wurde von der Politik sofort aufgenommen. „Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte sieht, genauso wie die Expert*innen des Robert-Koch-Instituts (RKI), Kinder und Jugendliche nicht als Treiber der Pandemie“, so schrieb die saarländische Bildungsministerin Christine Streichert-Clivot (SPD) kurz darauf in einem Elternbrief.
Prof. Markus Scholz vom Institut für Medizinische Informatik, Statistik und Epidemiologie der Universität Leipzig, hält das für Unsinn: „Der Begriff ‚Treiber‘ ist ja gar nicht definiert. Was ist denn ein ‚Treiber‘? Das bedeutet wohl, dass das irgendwie die einzige Ursache für die Pandemie ist. Das sind Schulen und Kitas sicherlich nicht. Aber sie sind ein wesentlicher Faktor – und die Datenlage dafür ist nach meinem Dafürhalten international überwältigend. Große Meta-Analysen belegen inzwischen, dass Schulschließungen einen wesentlichen bremsenden Effekt auf die Pandemie haben.“
Das Problem: Die Datenlage in Deutschland war lange Zeit überaus dürftig. Kinder, die sich infizieren, zeigen meistens keine Symptome. Schüler und Kita-Kinder wurden deshalb auch nur selten getestet, weshalb sie in den ohnehin löcherigen Daten der Gesundheitsämter lange unterrepräsentiert waren. Studien, die lediglich auf deren Meldungen beruhten (aber immer wieder von Kinderärzten hervorgebracht und dann von den Kultusministerien zitiert wurden), waren deshalb kaum aussagefähig.
Wissenschaftliche Stichproben auf der Grundlage von Reihenuntersuchungen gab es nur in der Frühphase der Pandemie, unmittelbar nach den ersten Kita- und Schulschließungen also. Die Schließungen im März und April 2020 waren allerdings so erfolgreich, dass bei den Studien zu diesem Zeitpunkt praktisch keine infizierten Schüler ausgemacht wurden. So kam das Märchen von den nicht-infektiösen Kindern in die Welt. Das lieferte den Kultusministern das Alibi, den Bildungsbetrieb ohne besonderen Infektionsschutz wieder aufzunehmen. Sich häufende Meldungen über Ausbrüche an Kitas und Schulen änderten an diesem Kurs nichts. Erst die Schnelltests in den Schulen ab April 2021 brachten etwas mehr Licht ins Dunkel – seitdem liegen die Inzidenzen bei Schülern durchgängig über denen bei Erwachsenen.
Deutlich wird, wie rasant die Fallzahlen in der zweiten Welle im Herbst und in der dritten Welle im März und April anstiegen
Aus Sicht der Wissenschaft kann deshalb überhaupt keine Rede davon sein, Entwarnung für die Bildungseinrichtungen zu geben. Im Gegenteil. Das untermauert jetzt ein aktueller Bericht des Robert-Koch-Instituts, der erstmals einen Eindruck vom Infektionsgeschehen in Kitas und Schulen während der gesamten Pandemie gibt.
Einbezogen sind darin nur die offiziellen Daten, die sicher nur einen Bruchteil des tatsächlichen Geschehens abbilden (die Gesundheitsämter hatten zwischenzeitlich bei der Nachverfolgung der Fälle kapituliert). Aber auch die zeigen schon ein bemerkenswertes Bild. So registrierte das RKI über 200 Ausbrüche in Kitas und Schulen in nur einer einzigen Woche (nämlich im vergangenen Oktober). Insgesamt 2.745 Ausbrüche in Schulen wurden offiziell gezählt, sogar 3.284 in Kitas und Horten.
Deutlich wird auch, wie rasant die Fallzahlen in der zweiten Welle im Herbst und in der dritten Welle im März und April anstiegen (eine Vervierfachung der Zahl der Ausbrüche binnen vier Wochen) – und wie notwendig deshalb die dann mittels der Bundesnotbremse erzwungenen Schulschließungen beziehungsweise Einschränkungen im Betreuungsangebot der Kitas waren.
Mittlerweile scheint die Lage einigermaßen stabil zu sein – in den vergangenen Wochen ist das allerdings kein Wunder angesichts der Sommerferien in den meisten Bundesländern. So heißt es im RKI-Bericht: „Die Zahl der übermittelten Ausbrüche in Kitas war seit Ende April 2021 rückläufig und befindet sich aktuell auf einem sehr niedrigen Niveau. Die durchschnittliche Ausbruchsgröße ging ebenfalls deutlich zurück und sank von 9 Fällen pro Ausbruch im März 2021 auf 3-4 Fälle im Juni/Juli 2021. Im Vergleich zur zweiten Welle im Herbst 2020 sind in der dritten Welle im Verhältnis zu den Erwachsenen mehr Kinder im Alter von 0 bis 5 Jahren in Kita-Ausbrüchen involviert (Anstieg von 36 % auf 47 %).“
Für die Schulen gilt: „Die Zahl der übermittelten Schulausbrüche war seit Ende April 2021 ebenfalls rückläufig und bewegt sich seit Mitte Mai 2021 auf einem konstant relativ niedrigen Niveau. Von März 2021 bis Mitte Juni 2021 war die Altersgruppe mit den meisten übermittelten Fällen in Schulausbrüchen diejenige im Alter von 6-10 Jahren (ca. 42 %). Seit Ende Juni 2021 wurden bisher überwiegend Fälle im Alter von 11-14 Jahren in Schulausbrüchen übermittelt (ca. 48 %).“
Nicht nur das nahende Ende der Sommerferien lässt die Sorgen allerdings wieder wachsen. Trotz der fast bundesweit unterrichtsfreien Zeit: Unter 10- bis 14-Jährigen liegt die Inzidenz laut RKI aktuell wieder bei 21, bei 15- bis 19-Jährigen bereits bei 40. Der Schnitt über alle Altersgruppen hinweg beträgt lediglich 15. News4teachers
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