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„Die fehlende Wertschätzung der Arbeitgeber ist total enttäuschend“: GEW-Chefin Maike Finnern im Interview

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BERLIN. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) ist mit mehr als 280.000 Mitgliedern die größte Interessenvertretung von Lehrkräften in Deutschland – sie hat sich in diesem Jahr an der Spitze neu aufgestellt: Bundesvorsitzende ist seit Juni die Deutsch- und Mathematik-Lehrerin Maike Finnern, zuvor Vorsitzende des Landesverbands Nordrhein-Westfalen. Im großen Interview mit News4teachers zieht Finnern eine Bilanz des Jahres 2021. Sie spricht über den Tarifabschluss, über die Corona-Krise – und über ihre Erwartungen an die neue Bundesregierung.

“Die Front war sehr hart auf der anderen Seite”: Maike Finnern, Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, über die jüngsten Tarifverhandlungen. Foto: GEW

News4teachers: Das Ergebnis der Tarifverhandlungen hat wenig Begeisterung bei den Betroffenen ausgelöst. Warum war nicht mehr drin?

Maike Finnern: Es gab mehrere Gründe, die dazu geführt haben, dass in dieser Runde nicht mehr herauszuholen war. Die Corona-Pandemie hat einen erheblichen Anteil daran. Einmal, weil die Krise die Haushalte der Länder belastet. Zum anderen aber auch, weil es Ende November bei explodierenden Infektionszahlen verantwortungslos gewesen wäre, die Beschäftigten zu weiteren Streikaktionen vor Ort aufzufordern und einer Ansteckungsgefahr auszusetzen.

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“Die Front war sehr hart auf der anderen Seite. Die Arbeitgeber waren überhaupt nicht zu Gesprächen bereit”

Als total enttäuschend empfinde ich die fehlende Wertschätzung der Arbeitgeber. Sie haben schamlos versucht, die schwierige Situation in der Corona-Pandemie für sich auszunutzen. Weder ihre gesellschaftliche Verantwortung noch ihre Verantwortung gegenüber den Beschäftigten hat die Arbeitgeber interessiert. Deshalb haben sie alle strukturellen Vorschläge der Gewerkschaften abgelehnt. So wäre es für uns wichtig gewesen, über die Umsetzung der Paralleltabelle für Lehrkräfte und die stufengleiche Höhergruppierung bei Beförderungen zu verhandeln. Da hat man klar gesagt: „Nein, darüber verhandeln wir auf gar keinen Fall.“ Dabei hatte uns die Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) nach der letzten Tarifverhandlung fest zugesagt, beim nächsten Mal Gespräche über eine Weiterentwicklung der Entgeltordnung zu führen – aber nichts ist passiert. Das ist im negativen Sinne bemerkenswert. Wir werden uns gut überlegen, wie wir auf diese Provokation antworten.

(Hintergrund, d. Red: Mit der sogenannten Paralleltabelle würden Verbesserungen bei der Eingruppierung angestellter Lehrkräfte erreicht, die unterhalb der Gehaltsstufe E13 liegen. Vom Erreichen der Paralleltabelle, die sie zumindest stufenmäßig auf die gleiche Ebene wie ihre verbeamteten Kolleginnen und Kollegen hieven würde, würden nicht nur viele Grundschullehrerinnen und -lehrer profitieren, sondern auch zahlreiche Sekundarstufe-I-Lehrkräfte sowie Quer- und Seiteneinsteiger, die derzeit wegen des Lehrkräftemangels vor allem an Grund- und beruflichen Schulen eingestellt werden.)

News4teachers: Hat sich die mangelnde Wertschätzung auch in der Verhandlungsatmosphäre ausgedrückt?

Maike Finnern: Ja, die Front war sehr hart auf der anderen Seite. Die Arbeitgeber waren überhaupt nicht zu Gesprächen bereit. Sie haben verlangt, dass die Gewerkschaften ihre Forderungen erfüllen – Stichwort Veränderungen beim „Arbeitsvorgang“, die dazu führen würden, dass viele Beschäftigte schlechter bezahlt werden –, bevor sie über Strukturforderungen der Gewerkschaften verhandeln. Ich finde das sehr kurzsichtig. Auch die Kultusministerkonferenz (KMK) hat während ihrer jüngsten Tagung wieder auf den Lehrkräftemangel hingewiesen. Um mehr Nachwuchs für den Lehrkräfteberuf zu finden, soll jetzt eine Werbekampagne gestartet werden. Kann man machen, schadet nicht. Aber tatsächlich muss man etwas ganz Anderes tun: die Arbeitsbedingungen verbessern. Solange die Politik da nicht wirklich rangeht, weil alles immer zu teuer ist, wird sich am Lehrkräftemangel nichts Grundlegendes ändern. Die Tarifverhandlungen mit den Arbeitgebern zeigen, dass es bisher an der Bereitschaft zu wichtigen Kurskorrekturen fehlt.

News4teachers: Zu den Arbeitsbedingungen gehört auch der Arbeitsschutz – womit wir bei Corona wären.

Maike Finnern: Genau. Aber auch die Arbeitszeit.

News4teachers: Dass die Arbeitsbelastung in den pädagogischen Berufen steigt, ist sicher unbestritten. Aktuell sind aber viele Lehrkräfte und Kita-Fachkräfte besonders besorgt darüber, dass Arbeitsschutz in den Bildungseinrichtungen nicht so gewährleistet wird wie an anderen Arbeitsplätzen.

Maike Finnern: Das ist richtig.

News4teachers: Wir vernehmen unter unserer Leserschaft schon ein starkes Grummeln, was den Einsatz der GEW betrifft, der als zu schwach kritisiert wird. Viele Lehrkräfte fühlen sich offenbar von ihrer Gewerkschaft nicht tatkräftig genug unterstützt. Täuscht der Eindruck?

Maike Finnern: Die Kritik kann ich nicht nachvollziehen, weil wir in den vergangenen eineinhalb Jahren ja insbesondere immer auch Arbeits- und Gesundheitsschutz eingefordert haben. Die Mitglieder der GEW sehen das und fühlen sich gut vertreten. So haben wir etwa Gutachten zum Thema verfassen lassen, in denen deutlich geworden ist, dass dringend mehr getan muss, um den Arbeits- und Gesundheitsschutz in den Kitas und Schulen besser umzusetzen als bisher – und entsprechend gehandelt.

“Der Wechselunterricht hat die Arbeitsbelastung der Kolleg*innen über den Rand des Erträglichen hinaus getrieben”

Wenn ich mir den jüngsten Beschluss der KMK anschaue, stelle ich fest, dass es in sechs von zehn Punkten darum geht, dass der Präsenzunterricht höchste Priorität hat. Das finden wir im Prinzip richtig. Auf der anderen Seite kann man dieses Ziel aber nicht immer nur postulieren, man muss auch entsprechend handeln – und für einen guten Gesundheitsschutz aller Beschäftigten, aber auch der Kinder, Jugendlichen und deren Eltern sorgen. Das haben wir immer eingefordert und Vorschläge gemacht, wie dies umgesetzt werden kann. Aktuell muss umgehend ein Booster-Angebot für alle Kita-Fachkräfte und Lehrkräfte kommen. Nicht in allen Bundesländern ist das bisher so geregelt, dass es funktionieren wird. Es geht zudem um Arbeitsschutz durch Masken, die Einhaltung der AHA-Regeln und – endlich, endlich! – den flächendeckenden Einbau von Luftfilteranlagen.

Allerdings wissen wir aber auch – und das ist die andere Seite, dass der Wechselunterricht die Arbeitsbelastung der Kolleg*innen über den Rand des Erträglichen hinaus getrieben hat. Das darf man nicht unterschätzen. Es gab ja ständig neue Anforderungen, auf die sich die Kolleg*innen haben einstellen müssen. Insofern muss man sagen: Bis heute fehlt die bedingungslose Unterstützung der Politik, ob bei der Teststrategie, den Impfungen oder beim Schulbusverkehr, damit hier nicht mehr so viel Gedränge herrscht. Selbst um die Bereitstellung von Masken mussten wir kämpfen.

News4teachers: Hätte die GEW nicht öfter mal den Klageweg beschreiten müssen?

Maike Finnern: Wir haben den Klageweg beschritten, in Bayern.

News4teachers: Ja, einmal. Und dann ist Ihnen vom Gericht erklärt worden, dass die GEW nicht klageberechtigt ist – und Sie sind nicht weitergegangen.

Maike Finnern: Das Ergebnis war ja auch sehr eindeutig. Wir wollten den Kolleg*innen keine falschen Hoffnungen machen, sondern die Wege beschreiten, auf denen wir Verbesserungen an den Schulen und für die Kolleg*innen erreichen können.

News4teachers: In Sachen Arbeitszeit lassen Sie sich von solchen Urteilen doch auch nicht schrecken. Dann führen halt einzelne Lehrkräfte mit Unterstützung der GEW die Klagen. Das wäre hierbei ja auch möglich gewesen.

Maike Finnern: Das ist schon richtig, aber wir sollten nicht Äpfel mit Birnen vergleichen. Sie haben ja das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Distanzunterricht gelesen. Daraus ging deutlich hervor, dass die Richter alle Maßnahmen, die die Politik ergriffen hat, als von der Verfassung gedeckt sehen. Deshalb wäre es wirklich schwierig geworden. Wenn eine Gewerkschaft den Klageweg beschreitet, muss sie schon abwägen, ob es Erfolgsaussichten gibt – oder nicht. Das haben wir gemeinsam mit unseren Juristen gemacht. Das Ergebnis kann man falsch finden. Niemand hat jedoch etwas davon, wenn wir Prozesse führen, bei denen von vorneherein sicher ist, dass dieser Weg nicht funktioniert. Ein Satz zum Streikrecht für Beamtinnen und Beamte: Diesen Weg haben wir beschritten, weil aufgrund der bisherigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) einiges dafürspricht, dass dieser der GEW in der Sache Recht geben wird.

News4teachers: Haben Sie sich als größte Lehrergewerkschaft eingebunden gefühlt in die Entscheidungen, die auf politischer Ebene getroffen worden sind?

Maike Finnern: Ich kann das größtenteils nur aus nordrhein-westfälischer Sicht beurteilen, weil ich ja erst seit Juni Vorsitzende bin. Auf Bundesebene hat es in der Zeit zu wenige Gespräche gegeben. Das ist, finde ich, nicht ausreichend. Ich erwarte von der KMK, aber auch von der neuen Bundesregierung schon, dass wir besser beteiligt werden, dass es ein strukturiertes Verfahren gibt, um uns und unsere Expertise regelmäßig einzubeziehen. Da hängt jetzt sehr viel davon ab wie zum Beispiel das angekündigte Format des Bildungsgipfels ausgestaltet wird. Ob das eine einmalige Veranstaltung bleibt oder wir regelmäßig in diesem Format arbeiten.

“Der Expertise der Lehrer*innen hat die Politik aber häufig nicht vertraut”

Die Schulen vor Ort und die GEW als Vertretung der Lehrkräfte haben eine ganze Menge praktischer Ideen, wie man der Pandemie konkret erfolgreich begegnen kann. Wenn es zum Beispiel um besonders förderbedürftige Schüler*innen  geht, schreiben mir Lehrkräfte: Sie wissen, welche Kinder das in ihrer Klasse sind. Man hätte dann im Wechselunterricht bevorzugt diese Schüler*innen in die Präsenz nehmen können, um die Lücken nicht zu groß werden zu lassen. Der Expertise der Lehrer*innen hat die Politik aber häufig nicht vertraut.

News4teachers: Wie war das in Nordrhein-Westfalen?

Maike Finnern: In NRW gab es zwar Treffen mit Eltern- und Schüler*innen-Vertretungen und uns sowie den anderen Lehrkräfteverbänden. Viel passiert ist da aber nicht. Gemeinsam haben wir immer wieder eine bessere Beteiligung beim Ausgestalten der Maßnahmen gefordert – die es aber zu wenig gab. Wir haben über unsere internationalen Kontakte beim International Summit on the Teaching Profession gehört, dass sich etwa die schwedische Bildungsministerin regelmäßig alle sechs Wochen mit den Kollegen*innen der Bildungsgewerkschaften getroffen hat und sich von ihnen beraten ließ, was man machen könnte und wie die Perspektive der Lehrkräfte aussieht. Davon sind wir in Deutschland weit entfernt.

News4teachers: Welche Lehren ziehen Sie aus dem bisherigen Verlauf der Pandemie für die Bildung? Was muss besser laufen? Vielleicht auch vor dem Hintergrund, dass die Pandemie auch mit der vierten Welle wohl nicht erledigt sein wird.

Maike Finnern: Man muss an mehreren Stellen ansetzen. Klar ist, dass es beim Thema Chancengleichheit im Bildungswesen besonderen Handlungsbedarf gibt. Das, was uns Studien auf internationaler und nationaler Ebene immer wieder ins Stammbuch schreiben, ist ja jetzt für alle sichtbar geworden. Da muss man ansetzen: in der neuen Koalition im Bund, aber auch in den Ländern. Andererseits braucht es eine institutionelle und strukturiertere Zusammenarbeit aller, die an Schule beteiligt sind: Gewerkschaften, Eltern und Schüler*innen. Zudem ist es wichtig, daran zu arbeiten, einen gesellschaftlichen Konsens zu erreichen über Fragen wie: Was soll Bildung leisten? Wie soll Bildung in Deutschland aussehen? Wir müssen die Schulen und das Schulsystem aus dem Wahlturnus der Politik herausbekommen. Es kann nicht sein, dass alle vier, fünf Jahre eine neue Landesregierung kommt, alles umschmeißt und die Kollegien nie dazu kommen, Projekte mal in Ruhe umzusetzen. Das sorgt für total viel Frust.

Deswegen müssen wir eine größere gesellschaftliche Verständigung hinbekommen. Was für eine Bildung wollen wir in Deutschland? Auch díe Bedeutung der Arbeitsbedingungen ist in der Krise nochmal sehr deutlich geworden. Das hat auch mit dem Fachkräftemangel zu tun, den die Politik wirklich dringend angehen muss, indem sie die richtigen Anreize schafft. Die Lehrkräfte haben in Deutschland eine enorm hohe Unterrichtsverpflichtung. Wenn man will, dass die Menschen, die in Schulen arbeiten, ihre pädagogischen Fähigkeiten auch anwenden können, muss man ihnen die Zeit dafür geben. Zeit für die Beratung der Kinder. Zeit für die Unterrichtsvorbereitung. Zeit für außerunterrichtliche Angebote. Das alles funktioniert nicht, wenn man allein 28 Stunden in der Woche unterrichten muss und 30 Kinder in der Klasse hat.

News4teachers: Brauchen wir dafür auch eine neue Struktur des Lehrerberufs? Seien wir mal ehrlich. Mehr Lehrkräfte gibt der Arbeitsmarkt überhaupt nicht her. Zu sagen: „Wir stellen mehr ein“, reicht ja nicht.

“Digitalisierung ist kein Allheilmittel. Sie entbindet nicht von persönlichen Kontakten und analogem Lernen”

Maike Finnern: Nein, das reicht tatsächlich nicht. Es soll mehr multiprofessionelle Teams an Schulen geben, aber auch zusätzliche Verwaltungskräfte für Verwaltungsaufgaben und IT-Experten für die digitale Infrastruktur. Zudem braucht es mehr Programme, um Quer- und Seiteneinsteiger zu gewinnen und diese nachzuqualifizieren. Allerdings bedeutet das auch, dass die Zusammenarbeit in den multiprofessionellen Teams möglich gemacht werden muss. Je mehr Professionen an den Schulen arbeiten, was ich richtig finde, desto mehr Aufwand fällt für die Koordinierung der Arbeit an. Die Richtung muss sein: mehr Zeit. Alle Menschen, die in Schulen arbeiten, brauchen Zeit, um ihre Aufgaben gut zu gestalten.

News4teachers: Inwieweit kann die Digitalisierung dabei helfen?

Maike Finnern: Sie kann sicherlich helfen, aber sie darf auch nicht überschätzt werden. Digitalisierung ist kein Allheilmittel. Sie entbindet nicht von persönlichen Kontakten, sie entbindet auch nicht von analogem Lernen – im Gegenteil. Denn Lernen läuft ja sowieso immer analog – der Kopf lernt, nicht der Computer. Wir brauchen gute pädagogische Konzepte, um die digitalen Möglichkeiten für den Unterricht zu nutzen. Es gilt das Primat der Pädagogik: Nur darum kann es gehen. Gerade bei der Digitalisierung müssen wir darauf aufpassen, dass wir die Chancengleichheit ernst nehmen. Wir müssen Teilhabe ermöglichen und Ausgrenzung verhindern. Die Gefahr ist groß, dass dieses Leitziel aus den Augen verloren wird.

News4teachers: Was erwarten Sie von der neuen Bundesregierung?

Maike Finnern: Mehr Zusammenarbeit mit den Ländern. Das ist einer der Knackpunkte. Wird es gelingen, ein Kooperationsgebot umzusetzen? Vielleicht sogar eine Grundgesetzänderung herbeizuführen, die das Kooperationsverbot in der Bildung endlich komplett kippt? Zudem müssen bundesweite Standards eingeführt werden: für eine hohe Qualität im Ganztag und in der Kita, aber auch bei der Digitalisierung. Auch hier ist entscheidend, inwieweit die Bundesländer bereit sind mitzugehen. Der Koalitionsvertrag sagt zwar pauschal: Wir wollen für Bildung mehr Geld ausgeben. Allerdings gibt es dabei einen Finanzierungsvorbehalt, es ist nicht klar, wo die zusätzlichen Mittel herkommen sollen. Das ist eine Leerstelle.

News4teachers: Gibt Deutschland zu wenig für Bildung aus?

Maike Finnern: Ja, keine Frage. Studien wie der Bericht „Bildung auf einen Blick“ der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) bestätigt Jahr für Jahr, dass Deutschland im internationalen Vergleich im Verhältnis zu seinem Bruttoinlandsprodukt viel zu wenig Geld in die Bildung investiert.  News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek führte das Interview.

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