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Schulministerin will Grundschullehrkräften Nachhilfe erteilen lassen – die wehren sich: Wir können nicht zaubern!

DÜSSELDORF. Nordrhein-Westfalens Schulministerin Dorothee Feller (CDU) möchte nach dem IQB-Schock die Rechen- und Lesekompetenzen von Grundschülern verbessern – indem sie unter anderem Grundschullehrkräfte «intensiver begleiten und bei Bedarf auch weiter qualifizieren» lassen will, wie News4teachers gestern berichtete. Der Vorstoß sorgt bei Grundschullehrkräften für Empörung. Nachhilfe vom Ministerium? Nein, danke. Wir veröffentlichen hier noch einmal drei besonders lesenswerte Kommentare von Betroffenen.

Sind Grundschullehrkräfte schuld daran, dass die Schülerleistungen gesunken sind? Nein – sagen Grundschullehrkräfte. Illustration: Shutterstock

Stoffel 06.01.2023 um 14:47 Uhr

Soso, die studierte Juristin hat ja anscheinend voll den Durchblick. Seit 2022 im Amt und schon weiß Sie, was die Grundschullehrer alles falsch machen und wie es funktionieren wird! Tests vor oder zu Beginn der Grundschulzeit fände ich allerdings sehr gut, da könnte man dann erkennen, mit welchen schwierigen Vorbedingungen Grundschullehrer kämpfen und welche Erfolge tatsächlich vorzuweisen sind. Wie vielen Kindern zuerst einmal die Sprache, das Stillsitzen oder das Jacke zumachen beigebracht werden muss, bevor es losgeht.

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Wenn ich in der ersten Klasse den Löwenzahn durchnehmen möchte, muss ich mittlerweile erst einmal den Sprachwortschatz erweitern. Viele kennen nur das Wort Blume, andere nicht einmal das.

Kathrin 06.01.2023 um 15:10 Uhr

Die GS-Lehrkräfte mit ihren Klassen brauchen einfach viel mehr Ruhe und Zeit zum Üben. Die GRUNDschule muss sich mehr auf GRUNDlegegende Kompetenzen konzentrieren können. Nach fast 30 Jahren im Schuldienst ist meine subjektive Beobachtung, dass die Kinder heute viel mehr Zeit brauchen, Fertigkeiten einzuschleifen. Die haben wir aber nicht. Die neuen Lehrpläne sind total überfrachtet. Neben den fachlichen Kompetenzen wird ja auch jedes gesellschaftliche Problem durch entsprechende Kompetenzvorgaben in die Schule gebracht.

Viele Hamburger Schulen nehmen sich JEDEN Tag 20 Min. Zeit für das Üben von Lesen in Lautleseverfahren – mit beeindruckenden Ergebnissen. In der Zeit kann dann aber nicht am Aufbau anderer Kompetenzen gearbeitet werden. Da müssen wir endlich realistisch werden. Unsere Lehrpläne sind realitätsferne Visionen – zumindest für viele Kinder, besonders aus bildungsfernen Familien. @Schattenläufer: Danke für den Satz „Pädagogische Utopien sind zu schön, um sie zu überdenken.“ Das trifft‘s!

Dazu dieser Irrsinn, dass Eltern einfach ein Überprüfungsverfahren für sonderpädagogischen Förderbedarf abbrechen dürfen. Bei uns turnt z. B. ein Erstklässlerchen durch den Schulalltag, dessen Eltern das vorschulische Verfahren mit der Begründung „Gesichtsverlust“ abgebrochen haben. Die Kinder mit deutlichem, aber eben nicht attestiertem Förderbedarf sind für alle Beteiligten oft eine große, nicht im Ansatz zufriedenstellend zu meisternde Herausforderung. Kein attestierter Förderbedarf = keine weiteren Ressourcen zur Förderung. Aber wie schön, dass die Eltern nicht ihr Gesicht verloren haben.

„Wir Grundschullehrkräfte sind keine Zauberer:innen. Irgendwann sind die Möglichkeiten zur individuellen Förderung erschöpft“

Die Wiederholung von Klasse 1 müsste von den Lehrkräften bestimmt werden können. Aber auch hier gilt: Elternwille geht vor fachlicher Expertise. In diesem Zusammenhang erlaube ich mir als alter Lehrerin noch die Bemerkung: Die Abschaffung der Schulkindergärten vor Jahren war ein „Brandbeschleuniger“. Erfahrene Kolleginnen und ich sagen öfter mal: „… wäre ganz klar ein:e Kandidat:in für den Schulkindergarten gewesen.“ Bei uns kamen die allermeisten Kinder nach Besuch des Schulkindergartens ohne Wiederholung durch Klasse 1 bis 4.

Auch den Autor:innen der neuen Lehrpläne ist bewusst, dass die Kinder mit viel weniger Vorläuferfähigkeiten eingeschult werden als früher. Deshalb sind wir verpflichtet, diese verstärkt zu fördern. Sehr sinnvoll. Doch das braucht Zeit. Wenn wir z. B. später in den Schriftspracherwerb einsteigen können, weil wir uns zunächst bei vielen Kindern um die Vorläuferfähigkeiten kümmern müssen, was lassen wir dafür weg aus dem Lehrplan??

Wir Grundschullehrkräfte sind keine Zauberer:innen. Irgendwann sind die Möglichkeiten zur individuellen Förderung erschöpft. Nur weil man „individuelle Förderung“ in die Richtlinien schreibt und Schulpolitik mit dem Begriff laut rumtönt, wird sie noch nicht realistisch. Die Menschen im Ministerium müssen endlich auch die Praktiker:innen fragen: Was brauchen die Kinder und ihr wirklich? Was ist realistisch? Zumal die Rahmenbedingungen ja immer schwieriger werden…

Palim 07.01.2023 um 12:04 Uhr

Das Streichen von „Lesen durch Schreiben“ war ein Bärendienst, der genau der Annahme folgte, alle Grundschullehrkräfte würden völlig frei und offen die Kinder den ganzen Tag vor sich hin spielen lassen. Dem ist nicht so, dem war nicht so und selbst in offenen Lernsituationen geht es um anderes, als Kind zu verwahrlosen oder ihnen die Hilfe zu verweigern. (…)

Die meisten Grundschullehrkräfte haben zur Diskussion um „Lesen durch Schreiben“ vermutlich lässig mit der Schulter gezuckt, wissend, dass sie Fibeln einsetzen, dass sie sich gar nicht gemeint fühlten, dass sie eine Vielfalt an Methoden nutzen, wie hier mehrfach von Grundschullehrkräften geäußert wurde. Was schadet es, wenn eine Methode, die kaum eingesetzt wird, aus einer Vielfalt von Möglichkeiten gestrichen wird?

„Nachdem nun diese eine Methode in einigen Bundesländern ‘verboten’ wurde, muss man nur laut genug schreien und rufen, dann wird sicher bald auch das Nächste gestrichen“

Es steckt mehr dahinter: Nachdem nun diese eine Methode in einigen Bundesländern „verboten“ wurde (die Formulierungen und die Auswirkungen sind andere), muss man nur laut genug schreien und rufen, dann wird sicher bald auch das Nächste gestrichen, sei es ein Inhalt oder eine Methode. Es schüttelt mich bei dem Gedanken, heftigst.

Dazu kommt, dass auch dieses Vorgehen der Deprofessionalisierung Vorschub leistet:
Eine studierte, examinierte Lehrkraft muss sich nicht nur kritisieren lassen, sondern bekommt seitens der Elternschaft unterstellt, sie könne Curricula nicht lesen und umsetzen, sei didaktisch wie methodisch ungelernt, könne Klassen und Schüler:innen nicht führen und Schüler:innen nicht angemessen unterrichten, was als „unterlassene Hilfestellung“ betitelt wird, weil sie die gewünschte Methode oder das von diesen Eltern bevorzugte Material nicht einsetzt. News4teachers

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