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Wie mündliche Mitarbeit benotet wird, ist von Schule zu Schule unterschiedlich (manchmal von Lehrer zu Lehrer)

MÜNSTER. Eine Eins oder Zwei auf dem Zeugnis lässt darauf schließen, dass ein Schüler den Stoff gut verstanden hat – oder? Sollte so sein, ist aber keineswegs sicher. Es sei alles andere als trivial für Lehrkräfte, objektiv nach allgemeingültigen Kriterien zu bewerten – schon deshalb, weil in die Noten auch die mündliche Mitarbeit einfließt. Zu diesem Fazit kommt Dr. Carolin Krüll vom Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Münster, die in ihrer Dissertation untersucht hat, wie Lehrkräfte die mündliche Mitarbeit erfassen und bewerten. Ein Interview über die möglichen Implikationen für die pädagogische Praxis.

Lehrkräfte tun sich nach eigenem Bekunden mitunter schwer, die mündliche Mitarbeit zu bewerten. (Symbolfoto) Foto: Shutterstock

Gute Noten gleich gute Schüler. Schlechte Noten gleich schlechte Schüler. Kann man diese Aussagen so pauschal treffen?

Carolin Krüll: Sicher nicht. Vor allem wenn sich die Note zum Teil aus der mündlichen Mitarbeit der Schüler zusammensetzt. Lehrkräfte können nicht automatisch aufgrund einer fehlenden oder geringen mündlichen Mitarbeit auf fehlende Kompetenzen schließen. Dann würde ein Großteil der Schüler schlechter bewertet werden.

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Und das wäre unfair?

Carolin Krüll: Ja, denn gerade mündliche Beiträge im Unterrichtsgespräch, die wesentlichste Leistungsart mündlicher Mitarbeit, können nicht von allen Schülern gleichermaßen erbracht werden. Zum Beispiel ist es üblich, dass Fragen weitergereicht werden, wenn sie noch nicht so beantwortet wurden, wie die Lehrkraft es erwartet hat, oder nach der ersten ,richtigen’ Antwort keine weiteren Antworten mehr gehört werden. Einige Schüler beteiligen sich nicht von selbst im Unterricht. Die Gründe dafür sind vielfältig: Einige sind eher introvertiert oder ängstlich, manche haben sprachliche Probleme oder brauchen länger, um eine Antwort zu formulieren. Auch kann die Beziehung zur Lehrkraft oder den anderen Schülern schlecht sein, sodass sich die Schüler nicht in der Klasse äußern wollen.

Existieren denn keine klaren Vorgaben, wie die mündliche Mitarbeit zu bewerten ist?

Carolin Krüll: Es gibt kaum schulrechtliche Vorgaben zur Leistungsmessung und Bewertung der mündlichen Mitarbeit, weder auf Bundes- noch auf Länderebene. Nordrhein-Westfalen ist zudem das einzige Bundesland, das die mündliche Mitarbeit nicht als eigenständige Leistungskategorie aufführt, sondern in die sogenannten sonstigen Leistungen integriert. Ohne eine Standardisierung von mündlichen Leistungen – wie es im Schriftlichen der Fall ist – haben die Lehrkräfte einen großen pädagogischen Spielraum und bewerten daher unterschiedlich.

Was zählt denn zur mündlichen Mitarbeit?

Carolin Krüll: Dazu gehören unter anderem Beiträge im Unterricht, Abfragen, Vorlesen, Rollenspiele und Podiumsdiskussionen, Partner- und Gruppenarbeiten, Tafelarbeiten sowie das Präsentieren von Arbeitsergebnissen und Hausaufgaben. Eine grundsätzliche Herausforderung ist, dass es keine einheitliche Definition oder ein allgemeingültiges Verständnis von mündlicher Mitarbeit und ihrer Abgrenzung zu anderen Kategorien wie zum Beispiel den sonstigen Leistungen gibt. Das ist für die Transparenz und das Verständnis der Notenvergabe für die Schüler ein relevantes Problem …

… weil jeder Lehrer es dann so macht, wie er meint?

Carolin Krüll: Das denken zumindest viele, wenn sie auf ihre eigene Schulzeit zurückblicken. Daher habe ich mir für meine Dissertation genauer angeschaut, wie Lehrkräfte die mündliche Mitarbeit erfassen und bewerten. Dabei habe ich mich auf die Fächer Mathematik und Deutsch der Sekundarstufe I an Gymnasien in NRW fokussiert. Neben einer ausführlichen Dokumentenanalyse habe ich 15 Experteninterviews mit sogenannten Fachvorsitzenden der Fächer Mathematik und Deutsch von acht Schulen geführt. Sie haben Auskunft darüber gegeben, ob es an ihrer Schule schul- und gegebenenfalls fachspezifische Vorgaben zur Bewertung mündlicher Mitarbeit gibt und zu welchen Aspekten konkret Vorgaben gemacht werden. Zudem sollten sie beantworten, wie sie die mündliche Mitarbeit bewerten.

Haben Sie die Rückmeldungen überrascht?

Carolin Krüll: Zum Teil ja. Demnach haben zwar die meisten Schulen schulinterne und fachspezifische Vorgaben zur Leistungsbewertung. Aber sie sind sehr unterschiedlich. Während manche Schulen seitenlange Vorgaben zur Bewertung oder zumindest Bewertungsvorschläge für die mündliche Mitarbeit formulieren, schreiben andere Schulen nur die wenigen und schwammigen Vorgaben aus dem Schulgesetz und den Kernlehrplänen ab und belassen es dabei.

Und wie fielen die Antworten in Bezug auf die Bewertung aus?

Carolin Krüll: Die Antworten der Experten habe ich dazu genutzt, einen Fragebogen zu entwickeln, den 272 Lehrkräfte beantwortet haben. Sowohl die Interviews als auch die Fragebögen machen deutlich, dass sich die Lehrer bei der Bewertung in einem ständigen Spagat zwischen Vergleichbarkeit und Individualisierung befinden. Einerseits ist die Vergleichbarkeit der Bewertung notwendig, um eine Grundlage beispielsweise für Versetzungen zu haben. Andererseits will man der Verschiedenheit der Schüler Rechnung tragen, damit bestimmte Schüler oder Schülergruppen keine Nachteile haben.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

Carolin Krüll: Ein wichtiges Kriterium zur Beurteilung ist, ob die Schüler selbst verantwortlich für ihre geringe Beteiligung sind – etwa aufgrund von Problemen im Elternhaus oder einer längeren Krankheit. Uneinigkeit besteht unter den Befragten darin, was zu tun ist, wenn es sich um sogenannte stille Schüler handelt.

Was sind denn die Gründe für die Uneinigkeit?

Carolin Krüll: Viele Lehrkräfte sehen Introversion als legitimen Grund für eine fehlende mündliche Beteiligung und gewichten für entsprechende Schüler dafür Leistungen in anderen Bereichen höher. Einige Lehrkräfte geben jedoch an, dass die aktive Beteiligung am Unterricht eine zu erwerbende Kompetenz darstellt, welche bewertet werden darf. Wobei unklar ist, ab wann Lehrkräfte erwarten, dass diese Kompetenz voll ausgeprägt ist, und wie während dieses Kompetenzerwerbs die fachlichen Kompetenzen innerhalb der mündlichen Mitarbeit bewertet werden sollen.

Was sind weitere Herausforderungen bei der Bewertung?

Carolin Krüll: Die meisten Lehrkräfte geben die ständige Bewertung der mündlichen Mitarbeit als problematisch an. Während die dauerhafte Bewertung für Lehrkräfte zeitintensiv ist, führt sie für die Schüler zu einer permanenten Leistungssituation, in der das Fehlermachen vermieden wird. Dadurch finden reine Lernsituationen de facto nicht statt.

Welchen Einfluss hat die mündliche Mitarbeit auf die Zeugnisnote?

Carolin Krüll: Deutschland ist eines der wenigen Länder, das die mündliche Beteiligung der Schüler mit in die Leistungsbewertung und damit auch die Zeugnisnoten einfließen lässt. Aber es gibt keine gesetzlichen Vorgaben, wie aus den Einzelleistungen die Zeugnisnote gebildet werden soll. Meine Datenauswertung hat ergeben, dass der Anteil der mündlichen Mitarbeit an der Zeugnisnote bei durchschnittlich 33 Prozent liegt – die Angaben variieren jedoch erheblich sowohl zwischen den Lehrkräften als auch zwischen verschiedenen Lerngruppen oder Schülern, die von einer Lehrkraft unterrichtet werden. 22 Prozent der Lehrer gaben an, die Note ,nach Gefühl’ oder ,aus dem Bauch heraus’ zu bilden. Damit sind bei über einem Fünftel aller Schüler die mündlichen Noten nicht vergleichbar. Dass diese Lehrkräfte ihre Benotung nicht transparent machen und sie damit für die Schüler nicht nachvollziehbar ist, liegt auf der Hand.

Haben Sie Empfehlungen für Lehrkräfte, wie der Umgang mit der mündlichen Mitarbeit und Bewertung verbessert werden kann?

Carolin Krüll: Grundsätzlich sollten sie sich intensiver darüber austauschen, vor allem innerhalb derselben Schule. Zudem kann eine stärkere Vereinheitlichung der Bewertungskriterien innerhalb der Stufen und Fächer oder zumindest eine Verständigung über etwaige Kernkriterien hilfreich sein. Zudem sollte ihnen klar sein, was genau zu bewerten ist: die Kompetenz – und diese kann über verschiedene Maßnahmen erhoben werden.

Und in Bezug auf die Zusammenarbeit zwischen Lehrkräften und Schülern?

Carolin Krüll: Gerade weil kaum schulrechtliche oder allgemeingültige Vorgaben zu Bewertungskriterien mündlicher Mitarbeit existieren, ist die Transparenz zwischen dem Lehrer und den Schülern eines der wichtigsten Kriterien für eine faire Bewertung. Nur wenn Lehrkräfte bekannt geben, nach welchen Maßstäben sie bewerten, und sie die Schüler konsequent in das Verfahren der Leistungsbewertung einbinden, schaffen sie Vertrauen und stärken das Gerechtigkeitsempfinden der Schüler. Dadurch können wiederum Anreize gesetzt werden, dass Schüler eher bereit sind, sich am Unterricht mündlich zu beteiligen. Kathrin Kottke führte das Interview

Der Beitrag wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers heiß diskutiert.

Elternverband: „Noten sind ungerecht – wie das Schulsystem selbst“

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